Die chinesische Dame. Gerhard J. Rekel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhard J. Rekel
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783990401880
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nur kurz an: freundlich, bestimmt, durchdringend. Lag es an der ungewöhnlich schlanken Gesichtsphysiognomie, dass Christian die Frau bekannt vorkam? Was machte sie bei Vater, wer war sie?

      Durch das Fenster sah er, wie sie in ihrem eleganten Wollmantel aus der Bürovilla kam, nein, sie schritt nicht wie Sonja über den Hof, sie schwebte. Gingen Chinesinnen immer leichter, geschmeidiger, graziler; hatten sie alle in der Schule gelernt, wie man über einen Platz schwebt? Seine Augen hafteten an ihr, bis sie hinter dem Werkstor in Frau Armbrusts blauem Polo verschwand.

      Plötzlich war es vollkommen ruhig im Büro. Er betrachtete die Industriegebäude, niemand schien mehr zu arbeiten. Wo blieb eigentlich Sonja mit seinem Bruder, was sahen sich die beiden überhaupt an?

      Ihm stach an der Hallenwand gegenüber ein Plakat ins Auge: Ein männliches Modell posierte mit Tiroler Filzhut und Lodenmantel. Erotisch verspielt warf der junge Mann einen Teddybären in die Luft. Darunter stand: Selikowsky – only made in Austria!

      Vor einem Jahr hatte Christian seinem Vater vorgeschlagen, neben der Folklore eine moderne Kollektion zu kreieren. Er bat junge Couturiers um Ideen für eine neue Modelinie. Viel Geld und Zeit wurden verbraten. Schließlich lehnte der Patriarch alle neuen Entwürfe kategorisch ab, einzig das jüngere Modell auf dem Plakat durfte Christian realisieren. Er empfand die Absage als Demütigung, sogar sein Bruder war damals auf seiner Seite, doch auch das half nicht.

      Da hörte Christian ein Geräusch. Als ob leise eine schwere Tür geschlossen würde oder ein dumpfer Gegenstand umfiele. Er konnte aber keine Tür sehen, die geöffnet oder geschlossen wurde – weder hinter ihm die Empfangstür noch gegenüber der Zugang zu Vaters Büro. Offiziell war außer Vater niemand mehr auf der Etage. Das Geräusch kam am ehesten aus dem Zimmer neben Vaters Büro. Jetzt erst fiel ihm auf, dass an dieser Tür das Schild Konferenzraum durch eines mit Vice Lutz Selikowsky ersetzt worden war. Vice was? Vicepräsident? Vice versa? Miami Vice? War Lutz jetzt größenwahnsinnig geworden?

      Sein Bruder hatte also den Raum neben seinem Vater bezogen. Offensichtlich wollte Vater seinen Ältesten in Griffweite haben. Wenn es nach dem Patriarchen ginge, hatte Lutz immer richtig entschieden: richtige Berufswahl, richtige Stadt, richtige Ehefrau. Lutz hatte vor zwei Jahren eine Mitarbeiterin aus der hauseigenen Buchhaltung geheiratet. Die Tochter eines Finanzbeamten. Vater hatte gejubelt, denn mit dieser Schwiegertochter hatte er einen direkten Draht zu den Steuerprüfern. Vor einem Jahr hatte sie Lutz Zwillinge geschenkt.

      Christian aber wollte sich nicht instrumentalisieren lassen und wie Lutz eine Hochzeit im Trachtenkostüm mit Blaskapelle und halber Firmenbelegschaft feiern. Er hatte Sonja versprochen, in Wien zu heiraten. Eine stille Hochzeit. Sechs Personen. Höchstens. Danach hatten sie geplant, nach Italien zu reisen.

      Vorsichtig näherte sich Christian der Tür von Vaters Büro. Warum kam der alte Herr nicht endlich raus? Christian hatte mit ihm schließlich einen Termin. Vater hielt sich immer an Abmachungen. Warum ließ er ihn nun warten, warum telefonierte er so lange, wollte er ihn wegen seiner Verspätung demütigen?

      Christian ging zur Toilette. Als er zurückkam, war die Tür zu Vaters Büro noch immer verschlossen. Genervt schaute er auf die Uhr und lauschte. Kein Telefonieren. Kein Geräusch. Nichts. Er sah sich um und fluchte leise: Diese Warterei war Schikane! Seine Familie schikanierte ihn immer, wie lächerlich! Da bemerkte er, wie am Ende des Flurs Sonja auftauchte. Vor ihr empfand er diese Schikane noch unerträglicher – er riss die Bürotür auf. Der wuchtige, braune Lederchefstuhl war leer. Christian machte ein paar Schritte in den dunkel möblierten Raum und entdeckte hinter dem Schreibtisch seinen Vater: auf dem Boden liegend, bewegungslos, mit Blut an der Schläfe. Seine dicke Brille lag neben ihm. Christian hockte sich hin, suchte Vaters Puls – kein Schlag. Er strich über seine Wange, berührte die Falte unter dem Auge, auf die er als kleiner Junge immer gesehen hatte, wenn Vater wütend war. Vaters Haut fühlte sich kühl an. Zu kühl. Christian schrie nach Hilfe, nach einem Arzt. Er hörte, wie Sonja an der Telefonanlage von Frau Armbrust hantierte. Panisch öffnete er Vaters Krawatte. Er legte seine Handballen zwischen Herz und Lunge, presste den Brustkorb seines Vaters nieder. Lange und kräftig. Nach zehn Stößen wollte er Vater beatmen, doch er zögerte, denn aus den Augenwinkeln bemerkte er Lutz an der Tür. Statt zu helfen, griff Lutz zu seinem Smartphone und begann zu plappern. Christian drückte weiter. Warum kam Lutz nicht näher, warum unterstützte er Christian nicht, warum telefonierte er? Christian verstand seinen Bruder nicht. Hatte ihn nie verstanden. Schweiß brach aus ihm heraus. Er presste und ließ los. Immer schneller, immer fester, immer verzweifelter.

      ˘ ˘ ˘

      Schanghai der 1940iger

      Der Strahl der Taschenlampe traf die Pupille. Neben Alfred Selikowsky kniete ein Notarzt. Er zog Alfreds Augenlied hoch. Die Pupille war weit und lichtstarr. Der Mann im Rotkreuzoverall knöpfte das hellblaue Hemd des Patriarchen auf, drückte ihm das Stethoskop an die Brust und horchte.

      Christian bemerkte eine Träne auf Lutz’ Wange. Er konnte sich nicht erinnern, wann er seinen Bruder zum letzten Mal hatte weinen sehen. Immer noch stand Lutz mit dem Smartphone in der Hand an der Tür und starrte den Arzt an. Entschuldigend schüttelte der Mediziner den Kopf, er schloss Vaters Augen und zog ein Formular aus seinem Koffer: den vorläufigen Totenschein. Schweigend begann er ihn auszufüllen.

      Christian lehnte am Fenster. Obwohl er immer ein angespanntes Verhältnis zu Vater hatte, saß die Traurigkeit wie ein Kloß in seinem Hals. Er wollte sich auf den Boden werfen, auf die Erde einschlagen, immer fester. Seinen Schmerz rausschreien. Losheulen. Er konnte es nicht. So viel hätte er mit Vater noch zu besprechen gehabt: die Hochzeit, seine Zukunft, seine Ideen, warum hatte er es nicht schon früher getan? Warum hatte er bloß so lange im Empfangsraum gewartet? Warum nicht früher die Tür aufgerissen? Wäre er weniger nett gewesen und hätte sich nicht an die „Der Herr Vata isch glei soweit“ – Anweisung von Frau Armbrust gehalten, hätte er früher die Rettung alarmieren können und Vater würde vielleicht noch leben. Vielleicht, hätte, wäre. Trotzdem fühlte er sich schuldig.

      Aus den Augenwinkeln bemerkte er Sonja im Vorraum, er ging zu ihr. Sanft strich sie über sein Haar, drückte ihn an sich. Ihre Wärme fühlend, schoss ihm ein afrikanisches Gedicht durch den Kopf, es hatte ihn tief beeindruckt. Die Therapeutin hatte es im Warteraum an der Wand hängen: Als Gott die Menschen schuf, pflügten die Frauen zuerst die Erde. Sie sind es, die essen bereiten, die sich um kleine Jungs kümmern, um junge Männer, um Gebrechliche und Sterbende. Und schließlich kümmern sie sich sogar um die Toten. Sie sind immer da. Aber man sieht sie nicht.

      Sein Vater musste alleine sterben. Christians Augen wurden feucht. Er hörte einen weiteren Wagen mit Martinshorn näher kommen. Kurz darauf schob sich ein dicker, uniformierter Polizist an ihm vorbei: „Griasch di Krischtian!“

      Er kannte Bernd Weirather seit seiner Kindheit. Der Mann mit dem teigigen Gesicht, der Vollglatze und dem gepflegten, weißen Schnurrbart nickte Christian freundlich zu und eilte ins Büro seines Vaters. Ein junger Kollege folgte ihm.

      „Um Gottes wülln, da Fredi“, hörte Christian den alten Polizisten sagen. Er machte ein paar Schritte zur Tür und beobachtete, wie Weirather mit dem Notarzt sprach.

      „Isch gar a Herzkasperl?“, fragte Weirather vorsichtig und musterte den Toten. Er wirkte nervös; bei Alfred Selikowsky handelte es sich um den reichsten Mann in der Region, er hatte sichtlich Angst, etwas falsch zu machen.

      Der Mann im roten Overall unterzeichnete den vorläufigen Totenschein und sagte leise: „Verdacht auf Herzversagen bei terminaler Herzinsuffizienz.“

      Bei einem natürlichen Tod reichte vermutlich ein kurzes Protokoll – Christian konnte sehen, wie Weirather aufatmete. Paralysiert stand er hinter den Männern. Er konnte es nicht fassen: Erst vor ein paar Monaten hatte Mutter ihm am Telefon erzählt, dass Vater ein neues Medikament verschrieben bekommen hatte. Und es exzellent vertrug. Sogar Jagen und Reiten konnte er wieder. Vaters Blut- und EKG-Werte waren wie vor 10 Jahren. Und jetzt plötzlich ein Infarkt?

      Christian beugte sich zu den beiden Männern und flüsterte: „Herzinfarkt kann doch durch alles