Alles zusammengenommen lässt sich klar feststellen: Wissen ist in der modernen westlichen Welt der Produktionsfaktor Nummer eins. Doch so sehr wir uns auch bemühen und so leicht uns Algorithmen das Vermessen von Klicks vermeintlich machen: Was wir heute als „Wissen“ bezeichnen, ist wesentlich schwerer zu quantifizieren und vor allem viel schwerer in seiner Substanz zu bewerten als Ziegel und Werkzeuge. Und vor allem: Das sogenannte „kollektive Wissen“ hat als wissenschaftliche Größe immer einen gewissen Beigeschmack. Denn kein Mensch kann sein eigenes Wissen exponentiell vervielfältigen, geschweige denn alles wissen. Solange wir nicht alle eine LAN-Klinke im Hinterkopf haben wie Neo in „Matrix“, ist vorhandenes Wissen noch längst nicht gleichwertig mit individuell verfügbarem Wissen.
Bleibt die Frage: Wie viel ist unser Wissen tatsächlich wert, und: Wie schlau sind wir, als Einzelner, denn eigentlich wirklich?
KEINER KANN ALLES WISSEN
Aus der Übermacht des Wissens als Produktionsfaktor der modernen Welt ergeben sich verschiedene Informationsasymmetrien. Zunächst in der Beziehung zwischen Leistungsanbietern und ihren Kunden: Anbieter und Dienstleister wissen deutlich mehr als die Kunden. Sie sind die Experten, egal, ob es sich um Versicherungsverträge, Finanzprodukte oder andere wissensbasierte Produkte oder komplexe Themen handelt. Der Dienstleister ist der Spezialist. Das bedeutet zunächst: Eine Geschäftsbeziehung kommt nur zustande, wenn die Kunden den Anbietern vertrauen – und sich in ein Abhängigkeitsverhältnis begeben. Durch die Wissensexplosion betrifft diese Asymmetrie des Wissens aber nicht mehr nur die Beziehung zwischen Anbietern und Kunden, sondern auch die Beziehungen zwischen Anbietern und Anbietern. Denn mit dem Wissen haben sich auch die Anwendungsgebiete des Wissens vervielfacht – und die Notwendigkeit, je nach Tätigkeit und gesellschaftlicher Position auf viel mehr Wissen zuzugreifen. Ein Beispiel: Früher musste ein Handwerker in seinem Fach gut sein – der Rest war Mundpropaganda und Bedarf. Heute muss sich ein Handwerker auch in vielfältigen wirtschaftlichen Belangen auskennen und sich gegen gestiegene (internationale) Konkurrenz positionieren. Außerdem muss er verkäuferisches Talent haben, um sich im Wettbewerb durchzusetzen. Am besten betreibt er sogar einen themenverwandten Online-Shop oder bietet mindestens einen elektronischen Terminbuchungsservice an. Selbst Markenkommunikation ist ihm im Idealfall nicht fremd. Und Social-Media-Experte sollte er natürlich auch sein, sowieso, ist ja klar.
Wer ist in so vielen Gebieten Experte? Welcher Handwerker ist nebenbei Verkaufs-, Marketing- und Social-Media-Profi? Genau: So ungefähr keiner. Der Markt verlangt das aber, wenn er auf seinem Gebiet was gelten will. Folge: Der Handwerker muss irgendwie das Wissen anderer anzapfen. Und so geht es beileibe nicht nur unserem Handwerker, sondern – uns allen. Mehr oder weniger. Die Wissensgesellschaft macht vor allem eines sehr deutlich: die individuellen Wissensmängel. Was wir als Einzelne wissen, bemisst sich am Ende ja nicht an der Menge von Informationen in unserem Kopf – sondern im Verhältnis zu allem Wissen, das wir kollektiv als Menschheit angehäuft haben. Ob der Einzelne in dieser Gleichung heute wirklich besser dasteht als vor 100 Jahren?
Das Dilemma des Handwerkers trifft jeden, der wirtschaftet. Die Komplexität des B2B-Wissensmarkts wächst und wächst deshalb. Je größer das Unternehmen, desto größer die Notwendigkeit des Wissenstransfers von Anbieter zu Anbieter. So haben Projektorganisationen in großen Unternehmen eigene Anwälte, die sich auf die spezifischen Belange der jeweiligen Industrie spezialisiert haben. Die Anwälte aus der „normalen“ Rechtsabteilung des Unternehmens können das dafür notwendige Wissen oft nicht mehr bieten – sie sind nicht „spezialisiert“ genug. (Wären sie es, würden sie ihre Kompetenz höchstwahrscheinlich als selbstständige Spezial-Anwälte teuer verkaufen …) IT-Abteilungen brauchen Experten für Data Mining, die wissen, wie man aus den gesammelten Daten verwertbare Informationen macht. Manager brauchen Experten, die ihnen sagen, ob die Strategie, die sie sich ausgedacht haben, auch technisch möglich und rechtlich erlaubt ist.
In meinem eigenen Fachgebiet, dem Gesundheitswesen, sind die „Onko-Boards“ ein typisches Beispiel. Diese Onko-Boards gibt es in den meisten Kliniken, in denen Krebspatienten behandelt werden. Bei diesen Meetings treffen sich beispielsweise Chirurg, Onkologe, Strahlentherapeut, Psychoonkologe und weitere Experten und beraten gemeinsam, wie ein bestimmter Patient zu behandeln ist. Fachübergreifend. Denn komplexe Themen lassen sich heute nur noch lösen, wenn sich verschiedene Experten untereinander abstimmen. Experten haben zwar ein enormes Wissen in ihrem Segment – aber weil sich Wissen so stark vermehrt hat und sich immer weiter vermehrt, können sie nicht mehr im Detail wissen, was in den Segmenten der anderen Experten gerade tagesaktuell stattfindet. Ein Chirurg beispielsweise kennt die neuesten OP-Methoden. Er weiß aber nicht im Detail, was sich im Bereich der Chemotherapien tut. Er hat auch keine Kapazitäten mehr, um sich in diesem Gebiet – und all den Hunderten anderen medizinischen Spezialgebieten – auf dem jeweils neuesten Stand zu halten. Das heißt: Je mehr er sich in sein Gebiet vertieft, desto mehr muss er darauf verzichten, Know-how in anderen Bereichen aufzubauen. Damit beispielsweise eine Klinik Patienten erfolgreich behandeln kann, sind ihre Experten darauf angewiesen, ihr Wissen untereinander zu teilen und gemeinsam über die Behandlung des Patienten zu entscheiden. Je komplexer das Krankheitsbild, desto mehr. In dieser Hinsicht sind sie voneinander abhängig.
Bei den Onko-Boards und jedem anderen professionellen Wissenstransfer geht es um das Teilen von Wissen – aber es geht hier auch um Vertrauen. Ein Experte muss darauf vertrauen, dass die anderen Experten sich ebenfalls mit einbringen, um ein Problem möglichst gut zu lösen. Und er muss auch darauf vertrauen, dass alle anderen, die sich Experten nennen, auch wirklich auf dem neuesten Stand des Wissens in ihrem Teilgebiet sind. Überprüfen kann er das nämlich nicht. Dazu müsste er Experte auf deren Gebiet sein.
So entsteht also eine Wissensasymmetrie. Nicht nur zwischen Kunde und Dienstleister bzw. Leistungsanbieter, sondern auch zwischen Dienstleister und Dienstleister, zwischen Experte und Experte. Aus der Perspektive der industrialisieren Welt von vor 100 Jahren ist das bei genauer Betrachtung schon ein bisschen verrückt. Damals gab es Produzenten und Händler und Konsumenten. Heute gibt es so viele Abstufungen von Experten, dass viele Eltern – geschweige denn Großeltern – nicht mehr wirklich verstehen, was ihre Kinder und Enkel beruflich eigentlich wirklich tun.
Die Wissensasymmetrien haben die Welt ganz schön kompliziert gemacht. Und jeden einzelnen ganz schön abhängig von der Expertise anderer. Gut für die Experten. Gut für uns Faker.
DIE WISSENSEXPLOSION FÜHRT ZU EINER EXPERTENEXPLOSION
Halten wir fest: Wissen vervielfältigt sich. Jeden einzelnen Tag. Es explodiert. Deshalb braucht es Menschen, die sich in den einzelnen Fachgebieten auskennen. Experten. Die Zeit der Allrounder, der Generalisten ist vorbei. Genauso wie die Zeit der Egomanen und Einzelentscheider.
Als Experte und Individuum muss ich mich nun fragen: Wie gehe ich mit der Asymmetrie um? Wie nutze ich sie für mich? Es gibt darauf nur eine Antwort: Andere müssen mich sehen. Ganz entscheidend dabei: Nicht nur Kunden müssen mich sehen, sondern auch Kollegen. Andere Experten. Andere Berater. Denn Berater beraten Berater. Sichtbar werden ist deshalb ein entscheidendes Thema. Ich muss mich als Experte deutlich positionieren und dafür sorgen, dass mich sowohl meine Kunden als auch die anderen Experten als den Experten wahrnehmen und sehen, der ich bin oder der ich sein möchte und deshalb schon jetzt vorgebe zu sein – denn das ist ja die Idee des Fakes. Der Fake braucht die anderen. Die Nachfrager