Unsere Wohnung befand sich in der vierten Etage. Die Wohnküche war geräumig. Durch den Flur kamen wir ins Schlafzimmer und dann in ein Zimmer, dass im Sommer als ›Gute Stube‹ genutzt wurde. Diese Stube war wie ein Starenkasten an das Haus gebaut mit drei Außenwänden und im Winter schwer beheizbar. Unsere Nachbarn hatten sechs Mädchen und es war morgens, wenn ich zur Schule musste, immer ein Lotteriespiel, auf das Klo zu kommen. Aus der Not heraus pinkelten meine Mutter, mein Vater und ich oft in den gusseisernen Ausguss in unserer Küche. Mein Bett stand im Schlafzimmer meiner Eltern. Mein Vater und meine Mutter hatten nach dem Krieg Edgar, meinen zehn Jahre älteren Bruder, seine Frau Barbara und ihren Säugling bei sich aufgenommen und hatten Angst, auch mich aufnehmen zu müssen. Auch ich hatte Angst.
Von unserem Küchenfenster aus konnte ich in Richtung Osten in einen weiten Horizont blicken. Unmittelbar an unserer Straße vorbei führten die Gleise eines Rangierbahnhofes und nachts wachten wir oft auf, wenn die Waggons vom Rangierberg herunterrollten und die Puffer aufeinander schlugen. Hinter dem Rangierberg erhoben sich die Mauern einer Zuckerfabrik und einer Kaffeerösterei, deren Brandgeruch bei Ostwind die Luft um unser Haus verpestete. Doch hinter den Fabrikgebäuden wurde es auf einmal weit. Schnellzüge kamen in regelmäßigen Abständen aus Richtung Süden in die Stadt, fuhren hinaus. In dem weiten Horizont konnte ich die großen Wolkenberge verfolgen, die über mich hinweg zogen. An sonnigen Tagen kamen aus der Tiefe des Horizonts Mauersegler auf mich zu, schwenkten mit lautem Schreien vor mir hoch in den Himmel, flogen zurück zum Horizont, kamen immer und immer wieder. An solchen Tagen riss ich unsere Küchentür auf. Durch das Flurfenster färbte die glutrot untergehende Sonne die Wohnung aus und ich vergaß in diesem Licht unser enges Wohnen.
Wenn sich Gewitter ankündigten, stand ich am offenem Fenster, sah zu, wie Windböen Staub und Blätter zu Säulen trieben, hielt mein Gesicht in die großen Regentropfen, die gegen mich fielen. An warmen Sommerabenden sah ich in den Horizont, sah zu, wie die Dämmerung, die Nacht kam, sich die Wolken schwarz färbten, wartete auf den Mond. Kam der Mond spät oder es war Neumond und der Himmel wolkenlos, sah ich gebannt in den Nachthimmel mit seinem Sternenmeer. Die enge Wohnung, den vollgepinkelte Ausguss, die Abfallschlippe schob ich weg. Ich wollte dorthin, wo die Sterne waren.
Der Weg am anderen Morgen in die Schule, die Erwartung, wieder mit Marion zusammen zu sein, war eine Flucht aus dem Alltag, in den sich meine Mutter und mein Vater ergeben hatten.
Marion wollte jeden Tag mit mir verbringen Wir gingen nach Schulschluss zwischen den anderen. Vor dem Schulgebäude kam sie zu mir. »Sehen wir uns heute Abend?« Wenn ich dann sagte: »Heute nicht. Ich muss zum Training«, war sie enttäuscht.
»Was trainierst du?«
»Fußball.«
Mein Bruder spielte im Eisenbahnerverein Fußball. Er hatte mich auf Anweisung meiner Mutter mitgenommen und ich wechselte im Laufe der Jahre von der Schülermannschaft in die Jugendklasse, dann in die Junioren. Das Spielen in unserer Fußballmannschaft war ein Bestandteil meines Lebens geworden. Wir trainierten jeden Dienstag und Donnerstag und sonntags am Vormittag machten wir unsere Punktspiele.
»Und wo trainierst du?«
Ich sagte es ihr.
Marion kam mit dem Fahrrad.
Während ich mit den anderen Ausdauer lief, sprintete, dazwischen immer wieder gymnastische Übungen machte, stand sie an der Zuschauerbarriere. Das Fahrrad hatte sie neben sich abgestellt. Sie hüpfte auf beiden Beinen auf und ab, winkte. Erst als wir auf ihrer Zuschauerseite Dribbeln übten, Flanken schlugen, bemerkte ich sie. Jedes Mal, wenn ich an ihr vorüberlaufen musste, schrie sie: »Tempo, Tempo.«
Ich winkte ihr zu, lachte. Meine Mitspieler grinsten, begannen zu frozzeln: »Tempo, Tempo.«
Marion wartete vor den Umkleidekabinen, wurde neugierig beäugt, doch da sie fast zu jedem Training kam, gehörte sie eines Tages zu uns. War sie zu Beginn unseres Trainings noch nicht da, wurde ich gefragt: »Kommt Marion heute nicht?«, traf sie später ein, rief einer von uns mir zu: »Marion ist da.«
Im März wurde uns Grasshof als neuer Trainer vorgestellt. Grasshof war ein untersetzter muskulöser Mann mit einem kantigen Gesicht. Er war Sportlehrer an einer Schule im Stadtzentrum und in den ersten Wochen sehr zurückhaltend. Wenn er nach unserem Training Marion vor den Umkleidekabinen begegnete, begrüßte er sie freundlich, ordnete ihre Anwesenheit in die unsere ein. »Dein Mädchen?«, fragte er mich eines Tages.
Marion lehnte sich an mich, hing sich in meinen rechten Arm ein, antwortete ihm, als fühlte sie sich übergangen: »Wir sind verlobt.«
Grasshof nickte, hob sein Gesicht zur Seite, blickte verloren irgendwo hin.
»Gehst du am Sonntag wieder spielen?«, fragte mich Marion.
»Natürlich. Wir müssen uns anstrengen. Noch haben wir die Chance in die Kreisliga aufzusteigen.«
»Du hast es gut. Du siehst anderes, begegnest anderen Leuten. Kann ich denn nicht mitkommen? Diese Sonntagvormittage sind so langweilig. Am Sonnabend, da nimmt mich meine Mutter ran. Da werden die Fenster geputzt, die Betten neu bezogen, da wird gewischt und gesaugt, gewaschen und die Wäsche auf dem Trockenboden auf die Leine gehangen. Aber dann ist der Sonntag. Der Vormittag gehört meiner Mutter. Während mein Vater zum Frühschoppen ist, zelebriert sie in der Küche den Sonntagsbraten. Ich würde gerne selbst kochen. Doch da darf ich nicht ran, außer die Gemüseabfälle in die Mülltonne bringen. Ich würde gerne selbst kochen.«
Ich fragte Grasshof.
»Warum nicht. Da haben wir wenigstens jetzt ein Maskottchen.«
Von diesem Tag an war Marion bei jedem Spiel dabei. Sie saß, wenn wir zu Hause spielten, nach dem Spiel mit uns in der Bierrunde. Fuhren wir nach Außerhalb, saß sie mit uns im Bus oder der Eisenbahn, flirtete, ließ sich umarmen, kam immer wieder sprudelnd zu mir zurück. »Grasshof hat gesagt, du warst gut heute.«
»So, so«, brummte ich, begann zu beobachten, wie Grasshof Marions Nähe suchte.
Marion merkte nichts von meiner Eifersucht.
Es war ein warmer Tag im Mai. Am Tag zuvor hatte es geregnet und die Luft war noch feucht. Die Kronen der großen Alleebäume thronten mit ihrem zarten Grün über den Gehwegen. Am Rand der Fahrbahn wucherte das Gras.
Marion und ich hatten uns verabredet, an diesem Abend die Gaststätte gegenüber ihres Wohnblocks aufzusuchen. Seit beginn des Frühjahres hatte ein neuer Wirt das Lokal übernommen. Er hatte eine Musikbox aufgestellt und einen Teil des Gastraumes als Tanzfläche frei geräumt. Ich stand vor dem Eingang der Kneipe, beobachtete die Männer und Frauen, die hineingingen, sah, wie die neue Ampel am Bahnübergang auf ›Rot‹ schaltete. Die Lok querte die Straße. Ich wartete. Marion kam nicht. Ungeduldig schaute ich immer wieder in die Richtung, aus der ich sie erwartete. Die Dämmerung war schon fortgeschritten. Die Straßenlaternen flammten auf. Ihr Schein vermischte sich mit dem Licht, das aus den Wohnungsfenstern auf das Straßenpflaster fiel. Für Minuten leuchteten die Treppenaufgänge als Säulen zwischen den Fenstern auf. Ihr Licht erlosch wieder, um dann erneut wieder hell in die Dämmerung zu strahlen.
Ich beobachtete, wie Marion aus ihrer Haustür trat, an den Straßenrand rannte, um die Fahrbahn zu überqueren. Ab und zu hielt sie inne, ging eilig ein