Gerd Höfchen
JOHANNES SCHALLER
EINE ANDERE BIOGRAFIE
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2017
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Inhaltsverzeichnis
Pension Kruse
Ich kannte Jupp und Ilse Kruse schon seit Jahren. Sie hatten in der Stadt früher das »Hotel zum Schwarzen Bären« geführt, das zweistöckige Gebäude, das sich zwischen dem Stadtkern und den anschließenden Mietshäusern an dem Übergang zu unserer Eigenheimsiedlung befand, nach der Wende gekauft und führten das Hotel unter dem Namen »Pension Kruse« weiter. Neben dem großen Gastraum hatten sie einen Raum für Frühstücksgäste eingerichtet. In diesem Raum traf ich mich jeden Mittwochvormittag mit Nachbarn. Wir redeten miteinander, erzählten unsere Erlebnisse und Geschichten. Ilse bediente uns, während Jupp hinten in seinem Büro arbeitete. Gegen zehn Uhr kam Jupp aus einem Büro zu uns herüber, fragte Ilse: »Ist der Herr Schaller schon weg?«
»Nein«, antwortete Ilse, »aber Moment, er kommt gerade.«
Die Treppe herunter kam ein hagerer Mann im schwarzen Tuchmantel. Unter dem dunkelgrauen Hut quoll silbriges Haar hervor. Das Gesicht des Mannes war hager wie seine Gestalt. Um seine Augen strebten die Falten von den Augenhöhlen in Richtung der Schläfen. Von den Flügeln der scharfkantigen Nase kerbten sich tiefe Falten bis zu den Mundwinkeln. Die Wangen waren hohl und ließen die Gesichtsknochen deutlich hervortreten. Unter dem Kinn, das kantig unter den schmalen Lippen hervorsprang, hing die Haut schlaff in den Kragen des weißen Hemdes hinein. Selbstsicher ging er zum Empfangstisch, stellte seine Gepäcktasche neben sich, wartete bis Jupp kam. »Ein kleines Frühstück bitte.« Nachdem er sein Frühstück eingenommen hatte, erhob er sich, bezahlte seine Rechnung, ging.
Jupp rief zu Ilse in die Küche hinein: »Der Herr Schaller ist weg. Du kannst das Zimmer sauber machen.« Er setzte sich mit einem Kaffee zu mir. »Der Mann kommt alle vier bis sechs Wochen hierher, mietet sich ein. Mittags geht er in die Stadt, um irgendwo zu essen, dann geht er auf den städtischen Friedhof. Er kommt spät zurück und dann brennt in seinem Zimmer lange Licht. Am Morgen zahlt er und geht zum Bahnhof.«
»Hat er Verwandte dort begraben?« Das Ritual des Fremden verwunderte mich.
Jupp zuckte die Schultern. »Auf dem Grabstein des Grabes, das er besucht, ist der Name Marion Rust, geborene Meißner, eingemeißelt. Als er das erste Mal kam, hat er nach dem Mädchennamen der Frau gefragt. Ilse und ich, wir kannten keine Marion Meißner. Damals kam er nicht in diesen schwarzen Klamotten. Er hatte einen guten grauen Anzug an. Seinen schwarzen Mercedes hatte er direkt vor unserer Haustür geparkt. Vier Wochen später kam er wieder mit dem Zug.«
Ilse kam von den Zimmern herunter. In der Hand hielt sie eine grüne Mappe, legte sie auf den Tisch. »Das hat er vergessen.«
»Hm«, brummte Jupp, »leg es in den Tresor, bis er wiederkommt.«
»Er kommt nicht wieder, hat er gesagt. Das Trauerjahr ist vorbei und nun sei er dran.«
»Wir haben seine Anschrift. Dann müssen wir die Mappe nachschicken.«
»Ich glaube, er hat die Mappe mit Absicht hier liegenlassen.«
»Du hast gelesen?«
»Ja«, erwiderte Ilse spitz. Sie drehte sich protestierend von Jupp weg. »Lies du«, sagte sie und übergab mir die Mappe.
Jupp ging verärgert hinter seinen Bürotisch. Auch Ilse ging. Ich saß, schlug die Mappe auf.
Ein aufgeschlitztes Briefkuvert war abgeheftet. Dahinter folgte ein weißes Blatt Papier, beschrieben mit einer Einladung für ein Klassentreffen. An die Einladung war eine handgeschriebene Notiz geklammert.
»Habe Friederike angerufen, werde hinfahren, habe gefragt, ob Marion da sei. Auch Marion hätte zugesagt.« Auf die Notiz folgte die Titelseite eines Manuskripts »Johannes Schaller – eine andere Biografie«. Ich blätterte die Seiten durch. An die letzte Seite war ein rosarotes Briefkuvert geheftet. Der Brief war ungeöffnet. Die Kanten des rosa Briefkuverts begannen sich bereits gelb zu färben.
Ich begann zu lesen.
Marion
Tanzstunde.
Die Tanzlehrerin hieß Lilo Engelgrau. Sie war eine kleine grazile Person mit angegrautem Haar, die gern mit uns Jungen flirtete. Ihr Begleiter war ein kleiner unscheinbarer Mann, der sie mit Klavierspielen unterstützte.
Der Tanzunterricht fand im großen Zeichensaal unserer Schule statt. Wir mussten vor Beginn des Unterrichts die Tische an die Saalwände schieben, stellten die Stühle davor in Reihe. Die Mädchen saßen uns Jungen gegenüber auf der anderen Seite.
Mit Staunen sah ich der kleinen Frau zu, mit welcher Selbstsicherheit sie in der Saalmitte stand, ihren Körper, ihren Kopf bewegte, elegant hin und her ging, sich drehte. Anschließend spazierte sie herausfordernd an unserer Jungenreihe vorüber, suchte mit einem Lächeln in unseren Gesichtern, neigte sich vor mir. »Darf ich bitten?«
Zögernd erhob ich mich. Die Engelgrau umfasste fest meine linke Hand, zog mich in die Mitte der Tanzfläche, legte ihren rechten Arm auf meine Schulter, ergriff meine linke Hand. »Kopf nach oben, Schultern gerade«, korrigierte sie mich.
»Wir beginnen mit dem Foxtrott. Das ist der einfachste Tanz.« Sie löste sich von mir,