Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Scheil
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Зарубежная публицистика
Год издания: 0
isbn: 9783961450718
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hier war die Krönung!“

      Plaumann machte eine kurze Pause, während er die Zeitung auf den Tisch warf.

      „Wir wissen, dass Sie Probleme haben, Pfeffer. Das mit Ihrer Trinkerei ist ein offenes Geheimnis und das mit den Frauen und den Spielcasinos – also es geht uns ja im Grunde auch nichts an, was Sie in Ihrer Freizeit machen. Aber das hier“, er tippte hart mit dem Zeigefinger auf den Artikel, der nun vor ihnen lag „ich meine wissen Sie eigentlich, wie viele Klagen hier eingegangen sind, seit Sie auf dem Sessel da drüben sitzen? Dutzende. Dazu insgesamt fast 38.000 Mark Schmerzensgeld, die übrigens immer der Verlag bezahlt hat. Von den unzähligen Gegendarstellungen ganz zu schweigen. Aber wir haben das immer mitgemacht. Immer! Und wir haben auch immer beide Augen zugedrückt. Auch dann noch, als wir schon wussten, dass Sie es mit der Wahrheit nicht so genau nehmen. Es war ja alles für die gute Sache. Aber wenn jetzt rauskommt, dass Sie selbst eigentlich nie der waren, für den Sie sich ausgegeben haben, was denken Sie denn, wie wir dann alle dastehen! Blamiert! Für alle Zeit! Mann Pfeffer, warum müssen Sie denn nur immer lügen?“

      Plaumann wurde jetzt wieder laut, und Neustädter konnte gerade noch eingreifen, um einen weiteren Ausbruch des Verlagschefs zu verhindern, indem er ansetzte:

      „Sie haben hier insgesamt gute Arbeit geleistet, Pfeffer, und das werden wir auch jetzt, bei allem verständlichen Unbill nicht vergessen. Aber Sie müssen verstehen, dass Sie zu halten bedeuten würde, uns verwundbar zu machen. Angreifbar. Das Blatt, die Fraktion, die Partei und am Ende natürlich auch uns selbst. Ich will Ihnen daher einen Vorschlag machen.“

      Neustädter sah ihn jetzt direkt an, aber aus seinem Gesicht waren Güte und Verständnis auf einmal gewichen. Die vornehme Noblesse jedoch war geblieben.

      „Sie haben damals den Seifriz zu Fall gebracht. Sie haben den Apparatschicks mit Ihren Geschichten ordentlich die Bürste durch den Filz getrieben, außerdem haben Sie die Umlage auf 280.000 gebracht. Deswegen werden wir Ihnen nicht die Kündigung aussprechen. Sie aber, mein lieber Pfeffer, Sie werden ihr Gesuch über den Rücktritt als leitender Chefredakteur noch heute einreichen. Dafür erhalten Sie im Gegenzug eine Verabschiedung aller Ehren halber und ein sehr ordentliches Zeugnis, welches ich selbst erstellen und persönlich unterzeichnen werde. Herr Plaumann ebenfalls, selbstredend. Diese unsägliche Sache mit Ihren Zeugnissen bleibt unser Geheimnis, auch wir haben kein sachliches Interesse daran, dass es in dieser Causa zu einer Öffentlichkeit kommt. Es wird überdies keine Klageschrift gegen Sie eingereicht, weder von uns, dafür garantiere ich, noch von dritter Seite, dafür sorge ich.“

      Er machte eine kurze Pause.

      „Einen Haken hat dieses Angebot allerdings, Herr Pfeffer. Es besteht ab jetzt für genau sechzig Sekunden und ist, ganz hanseatisch, mit Handschlag zu bestätigen.“

      Richard genannt Rick Pfeffer sah Neustädter an. Sein Ton war während er sprach immer kühler geworden und als er Pfeffer nun die Hand reichte, meinte dieser die Eiseskälte der Entscheidung fast körperlich spüren zu können.

      Und dann schlug er ein.

      Und so hatte es sich in Wirklichkeit zugetragen.

       V.

      Und nun saß er also hier, in dieser heruntergekommenen Spelunke nahe der Autobahn, und überlegte, ab welchem Punkt ihm eigentlich die Zügel entglitten waren. Das Hebraicum, oh Mann, das war dann wohl doch ein bisschen zu viel des Guten. Er trank sein Bier aus und bestellte gleich noch eins.

      „Ach und Süße“, rief er der Bedienung hinterher „einen Schnaps kannst Du auch gleich dazustellen!“

      Die Bedienung hatte ein hübsches Gesicht und eine ganz ansehnliche Figur, insgesamt etwas üppig und schon ein wenig verlebt, aber so mochte Pfeffer sie in der Regel. Die wussten, was sie wollten. Normalerweise hätte er sie neben Bier und Schnaps auch gleich um ihre Telefonnummer gebeten, aber heute war ihm nicht danach. Also dann doch nur das Herrengedeck. Die Bedienung nickte beiläufig und begann zu zapfen.

      Vielleicht war das ja auch das Problem. Der Alkohol. Er hatte immer schon viel getrunken, aber unter dem Druck der vergangenen Monate und Jahre war es immer mehr geworden, immer schlimmer. Manchmal war er in einer Kneipe aufgewacht und hatte weder gewusst, wo er sich befand, noch wie er dort hingekommen war. Oder eben wie damals im Hotel nach seiner Sause in der Roten Katze. Und, ach ja, die Frauen ... Oh Mann, er konnte ihnen einfach nicht wiederstehen. Wenn er eine sah, die ihm gefiel, dann musste er sie einfach haben. Koste es, was es wolle. Aber selbst ihm Puff musste er lügen und Geschichten erfinden, damit er sich halbwegs attraktiv fühlen konnte. Und damit er die guten Nutten abbekam. Traurig. Eigentlich. Aber so war es nun mal. Obwohl er erst 46 war, bildeten seine Haare nur noch einen breiten Kranz um seinen Kopf. Da half auch alles Über- und Rüberkämmen nichts, so sehr er sich auch jeden Morgen bemühte. Alle Versuche hierbei schlugen fehl. Ebenso wie die, weniger zu trinken. Und dem Trinken hatte er wohl auch seinen ordentlichen Bauchansatz zu verdanken. Und dann noch die blöde Brille ... Beinahe verlor er sich im Selbstmitleid und vermutlich log er deshalb eben manchmal so sehr, dass sich die Balken bogen. Na ja, und wo wir schon dabei sind, wollen wir auch ehrlich bleiben: die meisten Frauen, die er abschleppte, wollten es auch nicht anders. Es waren zumeist ältere Damen, gelangweilt, verblüht, letztlich anspruchslos. Da kam ihnen ein Rick Pfeffer mit seinen Räuberpistolen gerade recht. Eine kleine Aufregung zur Abwechslung vom öden Alltag, eine kurze Affäre, das war es dann. Die letzte Cola in der Wüste eben.

      Das mit der Spielerei allerdings bereitete ihm langsam ernsthafte Sorgen. Ja, er spielte wirklich ein bisschen zu gern. Nie um richtig große Summen, aber doch genug, um schon mal den Autoschlüssel an der Kasse abzugeben, wenn das Portemonnaie wieder zu schnell leer war. Na Schätzchen. Papa braucht noch was. Ja, ja, Belehrungen kannste Dir sparen. Jetzt gib schon die Jetons rüber. Hier der Schlüssel. Sollte wohl reichen!

      Und das bei seinem Auto! Er hatte sich vor zwei Jahren einen Mercedes gekauft. Neu natürlich, das musste schon sein. Damit hatte er sich einen echten Traum erfüllt. Wer einen Mercedes fuhr, der war schließlich jemand! Als er den Wagen dann aber abholte, fiel ihm plötzlich auf, wie viele von diesen Dingern eigentlich herumfuhren, und so ließ er seinen eigenen kurzerhand in Gold lackieren! Gold! Ohgottohgott. Es tat ihm also jedes Mal besonders weh, wenn er den Schlüssel für sein geliebtes Goldstück im Casino abgeben musste. Oh Mann, das Casino war wirklich sein persönlicher Vorhof zur Hölle, kamen dort doch jedes Mal alle seine Probleme auf einen Schlag zusammen: Spielen, Frauen, Alkohol.

      „Ist hier noch frei?“

      Die Frage riss ihn jäh aus seinen Gedanken. Er blickte vom Tisch auf und sah vor sich einen Mann, unauffällig, mittleres Alter, mittlere Statur, brauner Mantel. Pfeffer starrte den Unbekannten an. Der Laden war doch vollkommen leer. Warum wollte der Typ sich ausgerechnet hier hinsetzten? Zu ihm! An seinen Tisch! Gesellschaft konnte er in diesem Moment nun wirklich nicht gebrauchen.

      Aber er hatte noch weniger Lust auf Diskussionen, und sein Bier war inklusive Schnaps auch gerade angekommen. Deswegen zog er beides etwas dichter zu sich heran und nickte stumm. Dann wendete er sich seiner Getränke-Orgel zu. Er kippte den Schnaps in einem runter, so wie es sich gehörte. Der Fremde hatte inzwischen Mantel und Hut abgelegt und selbst ein Bier bestellt. Pfeffer hatte sich schon darauf eingestellt, ihn vollständig zu ignorieren. Bloß jetzt kein Gespräch. Wie geht’s denn so? Hier aus der Gegend? Blabla. Oh Gott, hoffentlich war das nicht einer von diesen Schwulen! War er nicht. Aber er sprach ihn trotzdem an.

      „Sagen Sie, Sie sind doch Richard Pfeffer oder? Der Kommunistenfresser vom Weserkreis! Na, Sie haben es aber mit den Genossen, was?“

      Pfeffer nahm einen tiefen Schluck von seinem Bier. „Und Sie sind wohl vom KGB und wollen mich verhaften, nehme ich an?“, sagte er mürrisch und tat einen weiteren großen Schluck.

      „Nein, nein, das eher nicht, kein KGB“, sagte sein Gegenüber in einer Mischung aus Strenge und Heiterkeit.

      „Ich bin vom Bundesnachrichtendienst.“

      Kapitel Zwei

       KARRIERE