Erst Stunden später kam er wieder an die Oberfläche. Der Schmerz war zu einem monotonen Dauergefühl abgeklungen. Das Fieber ließ ihn wie ein Stück Treibgut in rauer See unkontrolliert in die Realität eintauchen, um ihn gleich wieder im diffusen Nebel der völligen Orientierungslosigkeit versinken zu lassen. Das Gefühl des freien Falls wechselte sich ab mit einem sehr starken Drehschwindel, der ihm jede Kontrolle über seinen Körper nahm, den er ohnehin nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Als habe er keine Grenzen mehr, als bestünde sein Körper aus einer Wolke, die sich ständig veränderte und keine Konturen besaß. Eine Wolke, die tief in ihrem Inneren einen glühenden Kern hatte, der unheilvolle Hitze ausstrahlte. An diesem ersten Tag im Keller war er dem Tod sehr nahe, ohne es zu wissen. An diesem Tag bestand seine Gedankenwelt nicht aus Worten und Bildern, Erinnerungen und Deutungen, sondern nur aus Gefühlen und sensorischen Empfindungen. Erst am Ende des zweiten Tages war er imstande, sich zu fragen, wer er ist. Doch diese Frage blieb unbeantwortet für ihn.
Er hatte es unter Schmerzen geschafft, seine Hände zu seinem Gesicht zu bewegen und nach seinen Augen zu tasten. Er rieb sie vorsichtig und konnte die Verklebung des linken Auges lösen und es halb öffnen. Im ersten Moment dachte er, er sei blind, denn trotz des geöffneten Auges sah er nur Schwärze. Es dauerte einige Minuten, bis er begriff, dass er im Dunklen lag. Seine Nase war völlig zugeschwollen und er spürte eine harte Kruste auf seiner Oberlippe. Er war gezwungen, durch den Mund zu atmen und seine Schleimhäute waren vollkommen ausgetrocknet und rissig geworden. Seine Zunge lag wie ein gestrandeter, toter Wal in seiner Mundhöhle und keine Geschmacksknospe sandte mehr Informationen zu seinem Gehirn. Lediglich die Idee eines Geruchs tanzte wie ein zephales Glühwürmchen durch sein Geruchszentrum. Ammoniak. Und noch etwas anderes, doch auch Teile seiner Assoziationsfähigkeit waren im Meer des Vergessens untergegangen.
Sein nächstes Erwachen war völlig anders. Er konnte beide Augen öffnen und sie konnten endlich wieder Informationen an sein Gehirn senden. Es war zwar ein sehr dämmriges Licht, doch weil er seit zwei Tagen nur Dunkelheit um sich gehabt hatte, war die Helligkeit für ihn zunächst unerträglich und er war gezwungen, die Augen wieder zu schließen. Die Verkrustungen um seine Nase herum waren fort und nach einigen Minuten hatten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt. Die Lichtquelle war eine matte Glühbirne, die an der Decke des Raumes angebracht war. Er bemerkte, dass er völlig unbekleidet auf einer Pritsche lag. Das schmerzhafte Pochen in seinem Hinterkopf war abgeklungen und er begriff, dass jemand während seiner letzten Ohnmacht bei ihm gewesen war und ihn entkleidet und gewaschen hatte. Vorsichtig sah er sich um. Er befand sich in einem kleinen, fensterlosen Raum. Seine Pritsche war eine Campingliege, wie er erkannte, obwohl er nicht wirklich wusste, was eine Campingliege ist. Vor ihm auf dem Boden sah er eine Blechschüssel, darin ein Kanten Brot und neben der Schüssel eine durchsichtige Kunststoffflasche mit Wasser gefüllt. Langsam und unter Schmerzen gelang es ihm, sich aufzurichten und sich hinzusetzen, die nackten Füße auf kaltem Beton. Es klimperte leise und mit Erschrecken stellte er fest, dass er einen Halsring aus Eisen trug, der mit einer Kette an der Stirnwand des Raumes befestigt war. Doch im Moment war ihm die Flasche mit dem Wasser wichtiger. Er ließ sich von der Kante der Liege auf die Knie gleiten und griff nach der Flasche. Hastig öffnete er den Verschluss und trank gierig mit tiefen Zügen das schale Wasser. Sein Magen war nach so langer Zeit mit der plötzlichen Wassermenge völlig überfordert, und er erbrach es sofort wieder. Wie eine Fontäne schoss ihm das Wasser aus dem Mund und spritzte bis an die gegenüberliegende Wand. Hustend rang er nach Luft und trank danach erneut, aber langsamer und in kleinen Schlucken. Sein Magen krampfte erneut bedenklich, beschloss aber offenbar, das Wasser zu behalten. Obwohl er seit zwei Tagen ohne Nahrung war, verspürte er keinen Hunger. Seine gesamte Bauchgegend fühlte sich an, als sei sie aus heißem Stahl gegossen und kein organisches Material. Sein Blick schweifte durch den Raum. Bröckeliger Putz gab den Blick auf rote Ziegelsteine frei. Er sah auf die schmale Wand, an der seine Halsfessel befestigt war. Eine eigentlich dünne, aber offensichtlich sehr robuste Kette war dort mit einer Sechskantschraube an der Wand befestigt. Er tastete nach dem Eisenring, der um seinen Hals lag und stellte fest, dass ein Vorhängeschloss den Verschluss dieses Ringes bildete. Rechts von ihm erkannte er eine schmale Holztreppe, deren zwölf Stufen zu einer grauen Stahltür führten. Er bemühte sich aufzustehen und in Richtung der Treppe zu gehen, doch nach wenigen, sehr unsicheren Schritten spannte sich die Kette und verhinderte, dass er auch nur die unterste Stufe der Treppe erreichte. Er fühlte unendliche Hilflosigkeit in diesen Minuten. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Und vor allem: Wer war er? Er schaffte es gerade zurück auf die Liege, bevor das starke Sedativum, das dem Wasser zugesetzt war, wirkte.
Zwei
Karl Grothner war ein hochgewachsener und stattlicher Mann. Seine leicht ergrauten Haare verliehen ihm noch zusätzliche Autorität, obwohl er die gar nicht benötigte. Als alleiniger Chef des Handelsriesen »Grothner« und alleiniger Anteilseigner der »Grothner Solutions«, die eigentlich ein Geflecht aus verschiedenen Unterfirmen darstellte, gebot er über die veritable Menge von über zehntausend Angestellten. Er war Besitzer von unzähligen Immobilien und hatte sich mit seinen Firmen strukturell unabhängig gemacht. Wenn ihm zum Realisieren seiner Projekte Partner fehlten, buhlte er nicht um Zusammenarbeit, sondern schuf die Firma, die er benötigte, selbst. Transport, Logistik oder IT-Komponenten umrahmten sein Imperium und bildeten den Metabolismus, der es am Leben erhielt. Karl Grothner verfügte über ein Privatvermögen von über vierhundert Millionen Euro und gedachte, seinen Besitz stetig zu mehren. Sein sportlicher Körper steckte in einem dunklen Anzug, seine gesamte Erscheinung war vollkommen makellos. Die glänzenden Lederschuhe wiesen keinen Quadratmillimeter matter Stellen auf, als er aus der Limousine stieg, nachdem ihm der Fahrer die Tür geöffnet hatte. Der schwere, schwarze Land Rover, der stets wie ein Schatten hinter der Limousine des Firmenchefs herfuhr, hatte etwa fünfzig Meter entfernt gehalten. In ihm saßen vier sehr beeindruckende Männer, deren Aufgabe es war, für die Sicherheit des »Chefs« zu sorgen, wie Grothner immer dann genannt wurde, wenn er selbst nicht zugegen war. Ihn in seiner Anwesenheit so zu nennen, hätte niemand gewagt. In diese Verlegenheit kam allerdings niemand, denn Grothner kommunizierte nicht oft mit seinen Angestellten. Er gab Anweisungen, die stets so klar und durchdacht waren, dass es keinen Bedarf an Nachfragen gab. Hätte es diese gegeben, wäre der Frager für die Mitarbeit im Grothner-Imperium auf der Stelle disqualifiziert worden. An manchen weniger guten Tagen hatte Karl Grothner bis zu fünf Kündigungen ausgesprochen. Er verfügte über mehrere Rechtsabteilungen, von denen sich eine ausschließlich mit der Abwicklung der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse befasste.
Karl Grothner ging die wenigen Meter zum Haupteingang des Verwaltungsgebäudes, dessen gesamte Fassade aus verspiegeltem Glas bestand und das einen perfekten Würfel von exakt fünfundvierzig Metern Kantenlänge darstellte. Der Fahrer wartete weisungsgemäß genau dreißig Sekunden, bevor er dem »Chef« mit der schwarzen Aktentasche folgte, die er ihm dann vor die imposante Bürotür stellen würde. Frau Huss, die mausgraue Sekretärin des »Chefs«, würde ihm, wenn Karl Grothner das Gebäude wieder verlassen würde, jene schwarze Tasche exakt dreißig Sekunden später hinterhertragen und in den Kofferraum der Limousine legen. So war es jeden Tag. Zu genau derselben Zeit. Karl Grothner hatte jedes Detail im Ablauf seines Arbeitstages durchorganisiert und genauestens geplant. Jede Abweichung von diesem Schema, sofern von den Angestellten verursacht, führte in die sofortige Arbeitslosigkeit. Karl Grothners Chefsekretärin, Frau Huss, war eine unansehnliche Frau mit einem strengen und völlig altmodischen Dutt. Sie trug stets unauffällige, knöchellange Kleider und eine ebenso unspektakuläre Brille und selten Schmuck oder Parfüm. Ihr unterstand die Buchhaltung und das gesamte Sekretariat, das eine Etage tiefer untergebracht war. Ihr oblag die Auswahl der Schreibkräfte, die zum inneren Zirkel des Grothner-Imperiums gehörten, da sie Zugang zu teilweise sensiblen Daten und Vorgängen hatten. Sie konnte von sich behaupten, es am längsten mit dem »Chef« ausgehalten zu haben, würde das aber niemals tun. Sie war wie ein Schatten, wie der Mensch gewordene Nachhall seiner Persönlichkeit und Autorität. Als sie sich vor über fünfzehn Jahren auf die Stelle der Chefsekretärin bewarb, war sie in einem grauen Kostüm zum Bewerbungsgespräch erschienen und hatte fachliche Kompetenz bewiesen und das nötige Maß an Unterwürfigkeit