»Ich helfe Ihnen, Moment.« Marius griff seinem Opfer unter die Arme und half ihm auf die Pritsche zurück. Grothner saß nun vor ihm.
»Sie wissen, was los ist?«, fragte Marius. Karl sah ihn nur mit stahlgrauen Augen an. Ruhig. Ganz in Ruhe schien er ihn zu scannen mit diesen Augen.
»Ich sage Ihnen jetzt die Regeln. Und wenn Sie die schön einhalten, sind Sie bald wieder ein freier Mann und unsere Wege trennen sich.« Marius Kleinhans fühlte, dass er der Situation kaum gewachsen war. Er hatte damit gerechnet, dass Karl weinen, ihn anflehen, ihn anschreien würde. Doch der saß nur da und sah ihn fast amüsiert an. Marius spürte, dass der Mann vor ihm nicht die geringste Angst hatte. Das war so nicht vorgesehen.
»Das läuft so: Sie bleiben ruhig und brav. Ich gebe Ihnen zu Essen und zu Trinken. Ich erpresse Geld für Ihre Freilassung, und sobald ich das habe, lasse ich Sie laufen. Machen Sie Ärger oder Stress, wird der Service hier schlechter. Ich werde Sie von den Fesseln befreien, Sie dürfen sich hier im Raum frei bewegen. Da hinten steht ein Eimer, da können Sie sich erleichtern. Es gibt eine Plastikschüssel mit Waschwasser und einen Lappen. Ein Handtuch gibt es auch. Ich habe Sie angekettet, Sie können also nicht zur Tür, so lang ist die Kette nicht. Wenn ich Informationen brauche, sind Sie kooperativ. Sind Sie das nicht, wird der Service auch schlechter, alles klar soweit?« Marius hatte sich vorgenommen, mit fester, dominanter und selbstbewusster Stimme zu sprechen. Ihm selbst kam es vor, als läge etwas Weinerliches, Schwaches und Zittriges in seinen Worten. Grothner hatte während seiner Rede nur kurz die rechte Augenbraue gehoben und war ansonsten regungslos geblieben.
»Haben Sie das verstanden?« Grothner hob nur die Arme, anstatt eine Antwort zu geben, den Blick fest auf die Augen gerichtet, die er als Einziges vom Gesicht seines Entführers durch das Visier des Motorradhelmes sehen konnte. Nervöse Augen, wie er feststellte. Mit einem Hauch von Resignation, fast Trauer in ihnen. Keine sehr intelligenten Augen. Fade, blaue Augen. Gerötet. Der Mann hatte geweint. Falten in den Augenwinkeln. Der Mann war zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Und Angst. Angst in diesen Augen. Und Ehrfurcht. Vor ihm. Und noch etwas. Etwas sehr Emotionales. Karl kannte das. Doch es fiel ihm in dieser Sekunde nicht ein. Er hatte es schon manches Mal in den Augen von Menschen, mit denen er zu tun zu haben gezwungen war, gesehen. Verstanden hatte er es nie. Gewissen. Das war es. Ein für Karl Grothner sehr surrealer Begriff. Marius Kleinhans griff in seine Gesäßtasche und förderte einen Saitenschneider hervor, mit dem er die Kabelbinder an Karls Händen und Füßen durchschnitt.
»Sind wir uns also einig?«, fragte er sein Opfer. Grothner hob die Oberlippe, bleckte die Zähne, seine Mundwinkel wiesen nach unten. Er lächelte.
»Und ob!«
Zwölf
Im Polizeipräsidium ging es zu wie in einem Wespennest. Die SOKO »Karl« bestand aus vierzig Frauen und Männern, die Zugriff auf die gesamten Ressourcen des Apparates hatten. Hochleistungscomputer und unschlagbare Software kamen ebenso zum Einsatz wie Kommunikationsmittel und das Internet. Die Entführung des Industriellen Karl Grothner hatte bundesweit oberste Priorität und würde, angesichts des gewaltigen Einsatzes, der betrieben wurde, schon bald zu Ende sein. So hatte es nur wenige Minuten gedauert, bis der Besitzer des gestohlenen Nummernschildes ermittelt worden war und eine Liste aller blauen Renault Mégane Kombi des entsprechenden Baujahrs vorlag. Streifenwagen waren ausgerückt, und als sich herausstellte, dass alle Fahrzeuge, die noch zugelassen waren, als Fluchtauto der Entführer nicht in Frage kamen, zeigte die Datenbank alle im letzten halben Jahr abgemeldeten Autos dieses Fabrikats an. Nach weniger als zwei Stunden saß der Schrotthändler, ein Mann namens Klaus Borkowski, in einem der Vernehmungszimmer und beteuerte, sich nicht an den Käufer des Autos erinnern zu können. Der Vorbesitzer des Renault wurde ebenfalls hergebracht und identifizierte das Fahrzeug als seinen alten, vor Monaten abgemeldeten Kombi. Die Beulen auf der Motorhaube hatte er zweifelsfrei erkannt. Die Fahndung aus der Luft hatte nichts gebracht, der Wagen blieb verschwunden. Das unscharfe Bild, das die Einsatzkamera des Streifenwagens aufgenommen hatte, wurde in die Gesichts-Erkennungs-Datei eingespeist, auch wenn nur das Kinn des Mannes zu sehen war, der das Auto gesteuert hatte. Doch hier war die Technik an ihre Grenzen gestoßen und der Gesichtsausschnitt konnte nicht zugeordnet werden. Sieben Stunden nach der Entführung stürmte ein Mitarbeiter in das Büro von Paul Gruhlich, der mit zerzaustem Haar und Schweißflecken unter den Armen gerade dabei war, dem Staatsanwalt noch einige Stunden Zeit abzuringen, bevor dieser vor die Presse trat, die das Präsidium seit Bekanntwerden der Entführung belagerte.
»Wir haben ... hören Sie ... wir haben noch keine belastbaren Erkenntnisse. Nein ... auch nicht ... ich bitte Sie lediglich ... lassen Sie uns ... ich melde mich doch, wenn ... ja ... und tschüss.« Gruhlich sah entgeistert auf sein Telefon.
»So ein Arsch, hat einfach aufgelegt. Was haben Sie? Sagen Sie mir, dass Sie was haben und ich falle hier vor Ihnen auf die Knie.« Gruhlich sah den Forensiker flehend an.
»Wir haben die DNA von einem der Täter isolieren können. Wir vermuten, dass er in dem Lastwagen geschlafen hat, den Kopf auf das Lenkrad gelegt. Der Typ hat gesabbert und wir haben eine erstklassige DNA-Probe von ihm.« Der Forensiker strahlte.
»Ja und? Mann, ich trete Ihnen die Hose in Flammen, wenn Sie mir nicht auf der Stelle sagen, ob Sie die DNA zuordnen konnten.« Gruhlich hatte keine Nerven für Spielchen und Verzögerungen.
»Der Mann heißt Marius Kleinhans. Mehrfach vorbestraft wegen Einbruchdiebstahls. Hat in Fuhlsbüttel gesessen. Alle Daten von ihm sind ins SOKO-Netzwerk eingespeist.«
Sofort griff Paul Gruhlich zu seiner Tastatur und rief die entsprechende Seite auf, ohne den Mann in seinem Büro länger zu beachten. Sekunden später sah er das gestochen scharfe Foto von Marius Kleinhans auf dem Bildschirm, von vorne, von rechts und von links aufgenommen. Bilder vom Erkennungsdienst. Kaum zwei Jahre alt.
»Das Kinn?« Gruhlich sah nicht einmal auf, als er das fragte.
»Unser Mann, kein Zweifel.«
»Sonst noch Spuren?«
»Im Kanal haben wir nichts gefunden. Im Laster jede Menge DNA und Fingerabdrücke, aber das meiste wird von den Bauarbeitern stammen. Kleinhans ist abgetaucht, seit er entlassen wurde. Hat nur Einbrüche begangen. So ein Ding zieht der nie im Leben alleine durch, schätze ich.« Der Forensiker sah Gruhlich fragend an.
»Wenn Sie was finden, sofort zu mir!« Der Chef der SOKO nickte dem Spurensicherer kurz zu, mehr konnte er als Lob derzeit nicht übermitteln. Gruhlich griff zum Telefon und informierte den Staatsanwalt. Nur zehn Minuten später war Marius Kleinhans zur Fahndung ausgeschrieben, sein Bild an den Presseverteiler gegangen und über fünfzig