Die Reise auf der Inside Passage, die den Seeweg vor der Küste Alaskas und British Columbias mit einer Küstenlänge von etwa 1.500 Meilen und 1.000 Inseln bezeichnet, ist allerdings auch Glückssache, denn nicht immer gewährt das Wetter Einblick in die ganze Schönheit ihrer Umgebung. Und auch bei unserer ersten Fahrt war es nicht anders. Sonne in den Gewässern von British Columbia, und die drei Grundfarben verhangener Sommertage, als die Fähre ihren Weg in Alaska fortsetzte: Verwaschenes Weiß, Grau und dunkles Grün, für Gletscher, Wasser und die Masse der Nadelwälder. Und diese müde Farbpalette erinnerte mich auch sofort an einen Tischnachbarn in Prince Ruppert, der die vier Jahreszeiten in Alaska mit Juni, Juli, August und Winter bezeichnete und anfügte, dass jeder Einheimische in den ersten drei sein Geschäft mit dem Tourismus gemacht haben müsse. Und weil die meisten Besucher im Juli Alaska und den benachbarten Yukon ansteuern, ist er auch der absolut teuerste Monat des ganzen Jahres. Wir haben diese Zeit ganz bewusst umgangen und sind Mitte August auf dem Weg nach Norden, denn auch ein nicht ganz so schöner Tag stört uns nicht wirklich, und jenseits der Küste herrschen ganz andere Bedingungen. Jede Reise ist immer auch ein Kompromiss, und das Wetter muss man nehmen wie es ist und hoffen, dass weltberühmte „Bilderbuchfotos“ nicht gerade dann verregnet und grau sind, wenn man selbst vor ihnen steht. Alaska und der kanadische Yukon sind auch das Land der Mitternachtssonne, des Nordlichtes und die letzte große Wildnis Nordamerikas. Für erstere war es schon zu spät, der Rest aber reicht aus, um hellauf begeistert zu sein. Es ist eben wie mit anderen Dingen auch. Man kann nicht immer alles haben, aber jede Zeit hat ihre eigenen Reize. Für das wunderschöne Bunt des Herbstes und die gewaltigen Geweihe der Elchbullen zahlt man mit früher Dunkelheit und gelegentlichen Nullgraden am frühen Morgen. Die Mitternachtssonne spendiert enorm lange Tage, und der Weg, den sie erhellt, führt durch zartes Grün und erste Frühlingsblumen, aber so manche Schotterstraße ist dann noch nicht geglättet oder so schlecht, dass das Ziel gestrichen werden muss. Dafür stehen die Chancen gut, um links und rechts des Weges auf neues Leben in der Tierwelt zu treffen. Also doch lieber den teuren Monat „schlucken“? Für das ganz große Schauspiel der Weißkopf-Seeadler nützt aber auch das nichts, denn es findet schon im Januar statt, wenn der Winter Alaska mit eisiger Hand regiert.
Gegen 5 Uhr morgens erreichen wir Ketchikan. Die Zeit, um den Ort zu erkunden ist zu kurz, aber entgehen lassen kann ich mir den ersten Hafen in Alaska auf keinen Fall. Und daher stehe ich, wenn auch etwas fröstelnd, schone einige Zeit an der Reling, ehe sich die große Fähre Zentimeter um Zentimeter längsseits an das Dock herantastet. Mehrfach drehen die Motoren kurz hoch, und jedes Mal geht ein leises Zittern durch das Schiff. Zwischendurch ein paar Zeichen vom Bodenpersonal hinauf zur Brücke oder ein paar Rufe, die ich aber nicht verstehe. Kurz darauf sind die Passagiere, die vorhin noch vor der Treppe zum Auto-Deck anstanden, verschwunden, der Anker rattert und starke Taue werden um kurze Eisenpfosten geschlungen. Das ganze Manöver läuft ab wie ein Uhrwerk. Präzise. Schnell. Unauffällig. Jeder Griff sitzt. Dann öffnet sich auch schon der Bauch des Schiffes und Sekunden später rollen die ersten Fahrzeuge an denen vorbei, die noch mitkommen möchten. An anderer Stelle werden inzwischen Kisten, Fässer, Paletten und übriges Frachtgut ein oder ausgeladen, und nach kurzer Zeit ist der ganze Spuk schon wieder vorbei und das Schiff macht sich fertig um auszulaufen. Das Wetter ist jetzt schlechtweg unangenehm, kalt und grau in grau mit leichtem Regen. Da empfiehlt es sich doch, die Bettdecke nochmals weit über die Ohren zu ziehen, um sich aufzuwärmen.
Das hiesige Land gehörte einst einem Flathead-Indianer. Er verkaufte es, und 1900 entstand ein Ort, der in der Sprache der Ureinwohner „Kitschkhin“, die donnernden Flügel des Adlers, hieß. Als sich Waldarbeiter, Goldsucher, Fischer, Dosenfabrikarbeiter und Prostituierte ansiedelten wurde daraus Ketchikan. Dreizehn Fischfabriken machten es schnell zur „Lachshauptstadt“ und, um 1930, zur größten Stadt Alaskas. Als der Lachs zehn Jahre später stark zurückging übernahm Holz die tragende Rolle, und etwa 200.000 laufende Kilometer verließen jährlich den Wald. 1956 wurden die Schlagrechte im Tongass National Forest gestoppt, und der Ort verdient inzwischen sein Geld mit der Kombination Holz-Fisch-Tourismus und der Tlingit Kultur. Diese findet sich im Ort reichlich, und ganz besonders hat sich das einstige Fisher-Camp dieser Indianer sein natives Erbe auch im „Totem Bight State Historical Park“ und im „Saxman Native Village“ bewahrt, mit vielen Totems, Beaver Clan House, den Fox-Dancers und einer Schnitzerhalle, während die „Great Alaska Lumberjack Show“ an die hohe Zeit der Holzfäller erinnert.
Die Ansiedlung selbst wirkt irgendwie eingeklemmt zwischen Meer und Küstengebirge. Mehrere Häuser stehen auf Stelzen, zu anderen am Berghang führen lange Treppen, und bei den Touristen gilt die „Creek Street“ als Anziehungspunkt. Früher befand sich hier der Rotlicht-Distrikt, den die Stadtväter den „sportlichen Damen“ 1903 zugestanden hatten, und der 1953 wieder geschlossen wurde. Heute windet sich der auf Stelzen gebaute Holzsteg um Häuser mit Souvenirläden, Galerien und Shops. Wir haben dieses Örtchen auch erst Jahre später abgebummelt, als wir in umgekehrter Richtung unterwegs waren und der Inside Passage mehr Zeit widmen konnten. Und wenn dann das Wetter stimmt, gibt es auch einige Möglichkeiten, die nähere Umgebung mit Boot oder Buschflugzeug zu erkunden. Eine davon ist der Flug in das 2,3 Millionen Acker große „Misty Fjord National Monument“, wo 1.000 Meter hohe Granitklippen, riesige Wasserfälle und Gletscher, Bären, Wölfe, Hirsche oder Fischadler um die Attraktivität im unerschlossener Regenwald konkurrieren. Alaskas südlichste Stadt hat allerdings auch viel von dem, was die Einheimischen scherzhaft „Liquid Sunshin“ nennen, jede Menge Regen, so dass man auch Zeit mitbringen muss, um ihn auszusitzen.
Auch „Prince of Wales Island“, nach Kodiak und Hawaii Amerikas drittgrößte Insel, liegt in Reichweite. 1793 von Captain George Vancouver nach dem ältesten Sohn von King George III. benannt, zeugen die Namen auf ihrer Landkarte von der geschichtlichen Vergangenheit, die Indianer, Russen, Spanier, Briten, Franzosen und Amerikaner prägten. Das traditionelle Tlingit-Gebiet namens Taan (Seelöwe), heute mit POW modern abkürzt, wurde auch zur Heimat der Kaighani Haida, die im späten 18. Jahrhundert hier ankamen und den Südteil beanspruchten.
Der erste Europäer, der in der Nähe der Insel an Land ging, war 1741 Alexi Chirikov, als er ein Schiff von Vitus Bering auf dessen zweiter Expedition kommandierte. Zwar erreichte Juan de Fuca schon 1592 die Strait of Georgia, doch stießen die Spanier erst 1775 weiter nach Norden vor und reklamierten das spätere Prince of Wales Island für sich. Auch Käpt’n Cook, der einen Großteil der Küste Alaskas kartographierte, kam fünf Jahre nach Vancouver auf der Suche nach der Südwestpassage hier vorbei. Und nach ihm, 1786, hatten auch die Franzosen den Weg in den Norden gefunden, wo Holz und Fisch, und im 19. Jahrhundert auch Gold, Kupfer und andere Metalle, die Begehrlichkeiten weckten. Der Fisch spielt auch heute noch eine Hauptrolle, doch haben sich Erholung und Outdoor-Aktivitäten an seine Seite gesellt, denn die 1.500 Kilometer lange Küstenlinie mit Buchten und Hunderten von Inselchen stets ganz in der Nähe ist ein Eldorado für Boote, Angler und Taucher. Schließlich können die mit der Fähre „Prince of Walses“ von Ketchikan angereisten Touristen auch rund 240 Kilometer Schotterstraßen nützen, die der Holzindustrie zu verdanken sind und in die Wildnis zu Schwarzbär, Wolf und Hirsch führen.
Gegen Mittag steuert unsere Fähre den ehemaligen russischen Stützpunkt Fort St. Dionysius an der Mündung des Stikine Rivers an. Diese traditionelle Handelsroute der Tlingit-Indianer sollte den Russen nicht nur den Zugang zu Nerz-, Seeotter- und Luchspelzen sichern, sondern auch den Aktionsradius der mächtigen Hudson’s Bay Company einschränken. Funktioniert hat das jedoch nicht, denn schon sechs Jahre später war hier die Konkurrenz aktiv. Sie benannte den Posten um in „Fort Stikine“ und zahlte den Russen eine Pacht, zweitausend Pelze pro Jahr.
Die Fahrt nach hier war leider nicht berauschend. Regen und tiefhängende Wolken ließen von der Schönheit der Küste kaum etwas erkennen, sodass es ganz angebracht war, dass der Bord-Ranger unterwegs eine Menge von Alaska zu erzählte hatte. Bei der Hafeneinfahrt