Die Gewährleistung der Menschen- und Bürgerrechte
erfordert eine öffentliche Gewalt;
diese Gewalt ist also zum Vorteil aller eingesetzt
und nicht zum besonderen Nutzen derer,
denen sie anvertraut ist.
Artikel 12 der Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte (1789)
Prolog
Sommer 2005
Der Wagen fährt mit eingeschalteten Scheinwerfern im Schritttempo durch die menschenleeren engen Straßen eines Lagerhausbezirks am nördlichen Pariser Stadtrand. Zu so nächtlicher Stunde hat diese Vorortgegend etwas Unheimliches: geschlossene Gittertore, hinter denen sich der Müll stapelt, heruntergelassene Rollläden voller Graffiti, kaputtes Kopfsteinpflaster, abgesackte Gehwege, dunkle Straßenlaternen, dicht an dicht die wuchtigen schwarzen Silhouetten der Lagerhäuser. Es ist derart leblos und still, dass jedes hier auftauchende Wesen nur als Bedrohung empfunden werden könnte. In dem Wagen, der innen schwach beleuchtet ist, drei Männer, der Fahrer und seine zwei Begleiter. Sie ähneln sich. Jung, muskulös, sehr kurzes Haar, leichte Stoffblousons, Jeans und Sportschuhe. Ihre Bewegungen, ihre Worte, ihr Schweigen sind aufeinander eingespielt, belanglose Satzfetzen, Kaugummi, Gelächter, ihre Blicke wandern umher, es herrscht lockere Vertrautheit. Im Hintergrund knisterndes Rauschen, dem niemand Beachtung schenkt. Man nähert sich Paris. An einer Straßenbiegung taucht zwischen Lagerhausbezirk und Ringautobahn ein Betonklotz auf. Fünf Parkdecks an der nördlichen Zufahrtsstraße nach Paris. Die Spannung im Wagen steigt. Die Männer straffen sich, verstummen, sind wachsam, leicht angespannt. Der Wagen biegt langsam in die Einfahrt ein. Einer lacht auf, die Hand im Schritt: »Bin ich geil heute Abend.« Der Fahrer hupt dreimal kurz. Der Nachtwächter in seinem Häuschen dreht sich auf seinem Stuhl, hebt grüßend die Hand, öffnet die Schranke. Der Wagen rollt in das Parkhaus, vorbei am rechts liegenden Treppenhaus-, Fahrstuhl- und Toilettenkomplex, zur Linken drei lange neonerleuchtete Gänge, in denen auf beiden Seiten Autos parken, so gut wie kein Platz mehr frei. In den letzten Gang biegt der Wagen ein, Mädchen treten aus dem Dunkel und kommen im Scheinwerferlicht näher. Als sie den Wagen erkennen, scharen sie sich zusammen, ein stummer, trotziger Block. Der Fahrer bremst, hält an, lässt den Motor laufen. Die beiden Mitfahrer springen hinaus. Paturel, ein Hüne mit leichtem Fettansatz, wasserblaue Augen, rothaarig und sommersprossig, er ist der Boss, das sieht man, blickt sich um, zählt die Mädchen.
– Foto –
Zehn. Eine fehlt. Weiter hinten sitzt eine unbekannte Gestalt auf der Kühlerhaube eines Volvo. Paturel dreht sich zu seinem Stellvertreter Marty, der hinter ihm steht, und zeigt auf den Volvo: »Guck nach, was das soll«, dann wendet er sich an die Mädchen.
»Wo ist Carla?«
Eins der Mädchen zeigt zu den Toiletten. »Mit einem Kunden.«
Paturel lacht, zieht den Gürtel hoch. »Wunderbar. Das liebe ich.«
Er stürmt zu den Toiletten, reißt die Tür auf.
– Foto –
Ein Mädchen steht auf das Waschbecken gestützt, das lange schwarze Haar verdeckt ihr Gesicht, der Rock ist bis zur Taille hochgeschoben, ein dicker Mann in Jackett und heruntergelassener Hose nimmt sie keuchend von hinten.
»Du Drecksau«, brüllt Paturel und wummert mit der Faust gegen die Holztür. »Meine Schwester! Verpiss dich oder ich leg dich um!«
Der Typ verschluckt sich vor Schreck, wimmert, zerrt hastig seine Hose hoch und flüchtet durchs Treppenhaus. Carla richtet sich auf, will ihren Rock zurechtziehen, Paturel, der sich vor Lachen schüttelt, versetzt ihr einen Schlag in den Nacken, drückt sie mit einer Hand gegen das Waschbecken, öffnet mit der anderen den Reißverschluss seiner Hose und dringt anal in sie ein. Das Mädchen schreit auf. Zwei brutale Stöße, und Paturel kommt mit einem Stöhnen, einem langen, unterdrückten Stöhnen. Er lässt das Mädchen los, das auf die Knie fällt, wäscht sich kurz am Waschbecken. Verdammt, war das gut. Carla, hinter ihrem Haar versteckt, halb nackt, auf den Fliesenboden gesackt, weint lautlos. Paturel bringt seine Kleidung in Ordnung und kehrt zum Parkbereich zurück.
Als Paturel und Marty endlich abschwirren, lässt Ivan Djindjic, der Fahrer, ein Schrank von einem Mann, schwarzes Haar, geschwungene dichte schwarze Brauen, rote Lippen und blasser Teint, die Kupplung kommen, rollt im Schritttempo, die Augen unverwandt nach vorn gerichtet, kein Blick zu der Gruppe der Mädchen, die ihm in kaum verständlichem Französisch lachend zurufen: »Hey, du Hübscher, fahr doch nicht gleich wieder weg, Kleiner«, nimmt die Auffahrt, gleitet auf die Parkebene im ersten Stock. Ein junger Schwarzer, hochgewachsen und schmal, das weite weiße Hemd aufgeknöpft über der sehnigen Brust, Walkman am Gürtel seiner Jeans, Kopfhörer auf den Ohren, kommt aus dem Treppenhaus getanzt. Die Bewegung entspringt im Becken, greift über auf Oberkörper, Arme, Beine, jäh scheint Balou nicht mehr eins, die Glieder verselbständigen sich, erstarren dann, ein Moment in der Schwebe, die Bewegung setzt wieder ein und der Körper wird wieder ganz. Die Reinheit der Bewegungen fasziniert Ivan umso mehr, als keinerlei Musik sie trägt oder stört. Auf diesem riesigen Betonareal besteht die Geräuschkulisse nur aus dem leerlaufenden Motor und dem statischen Rauschen im Wageninnern, von dem er nichts mehr mitbekommt, weil er nicht darauf achtet. Wie jede Nacht in diesem Parkhaus kommt Balou ihm entgegen. Tanzend, um sich selbst und andere davon abzulenken, dass er hinkt. Balou. Rückblende: ein Bild, so deutlich wie ein immer wiederkehrender Traum, die erste Begegnung, sieben Jahre schon her. Ein vom Regen durchnässter, vor Kälte zitternder schwarzer Jugendlicher in einem zu großen Paris-Saint-Germain-Trikot klammerte sich an den Gitterzaun des Fußballplatzes vom Sporting Club de Sainteny und sah der Mannschaft der Sechzehnjährigen, zu der Ivan gehörte, beim Training zu. Fast zwei Stunden hielt er das Gitter umklammert, reglos, stumm. Sein verstörter Blick heftete sich immer häufiger auf Ivan und ließ ihn schließlich nicht mehr los, bis dieser, immer mehr Bälle verstolpernd, vor Wut aufheulte und von den Trainern in die Kabine geschickt wurde. Als er kein Stück ruhiger wieder herauskam, stand der Junge unverändert an seinen Zaun geklammert. Ivan machte einen Umweg, um bei ihm vorbeizukommen und ihm eine reinzuhauen. »Wir mögen PSG hier nicht.« Der Junge ließ abrupt los, fiel mit dem Hintern in den Matsch, das Gesicht grau vor Kälte, zähneklappernd, von Schluchzern geschüttelt, ohne eine Träne. Der ratlose Ivan schleppte ihn in die Clubkabinen, duschte ihn, zog ihm trockene alte Sachen an. Sie flüchteten sich in einen Verschlag, zwischen Bälle und bunte Plastikhütchen, und rauchten zusammen eine. Dann fing der Junge an zu erzählen, mit klarer, leiser Stimme, sachlich, wie einer, der die Hölle hinter sich hat. Er war in Bamako auf der Straße von einem Fußballscout gekauft worden, der auf den Aschenplätzen der Stadt sein Talent erkannt hatte. Seine Familie hatte ihn gern verkauft, und er war freudig fortgegangen. Er war bei einem portugiesischen Verein gelandet, wo sich alles gut angelassen hatte. Man bewunderte seine Ballbeherrschung, sagte ihm eine große Zukunft voraus. Aber dann – zu viele Trainingseinheiten für einen heranwachsenden Körper, ein besonders böses Tackling, und da war sie, die schwere Verletzung, Knöchelbruch mit Bänderabriss, eine böse Sache und nicht richtig behandelt. Er würde ein, zwei Jahre lang nicht spielen können, vielleicht nie mehr, und es bestand sogar die Gefahr, dass er für immer hinken würde. Zunächst Verzweiflung. Zurück nach Bamako, von welchem Geld denn? Als Invalide, die Blicke seiner Familie … Und dann das Wunder. Kaum fing er wieder an zu gehen, da teilte ihm der Trainer des portugiesischen Vereins mit, dass PSG, der große Pariser Club, Ablöse für ihn zahlen und einen Ausbildungsvertrag mit ihm unterzeichnen wolle. In Bamako war PSG ein großes Thema gewesen, der Club der Brasilianer, Ricardo, Ronaldinho … In Paris würde er medizinisch gut betreut werden, könnte in Ruhe genesen und eines Tages vielleicht in der ersten Mannschaft spielen. Tags darauf fuhr ihn der Trainer an die Grenze nach Frankreich und setzte ihn an einem Bahnhof ab, mit einem einfachen Fahrschein nach Paris und einem PSG-T rikot, das er beim Aussteigen überziehen sollte, damit der Vereinsfunktionär, der am Bahnhof auf ihn warten würde, ihn erkennen könnte. Doch am Bahnhof