Kurz vor zwölf Uhr wurde das Zeichen zum Einsteigen gegeben; auf dem ersten Wagen befand sich ein Musikchor und unter schmetterndem Hörner- und Trompetenklang und den Freudenschüssen aufgestellter Böller, setzte sich mit dem Schlag zwölf Uhr der Zug in Bewegung. Ein schneidendes Pfeifen gab das Signal zur Abfahrt. Sie begann in langsamem Tempo, wuchs aber mit jeder Sekunde, bis sie jene rapide Schnelligkeit erreicht hatte, wodurch die Eisenbahnen ihren so glänzenden Sieg über alle sonstigen Mittel des Fortkommens erfechten. Einige Reiter versuchten eine Zeit lang den Wagenzug zu begleiten, doch schon nach wenigen Minuten konnten die erschöpften Pferde nicht mehr in gleicher Schnelligkeit folgen.«29
Über die Beförderungsbedingungen blieb keiner der ersten Fahrgäste in Zweifel. Jeder durfte nur so viel Gepäck mitnehmen, wie er auf dem Schoß halten konnte, ohne den Nachbarn zu belästigen. Das Rauchen war nur in der dritten, der Holz-Klasse, erlaubt. Dreimaliges Abläuten in Abständen von jeweils fünf Minuten rief zum Zuge; die Wagentüren durften nur vom Zugpersonal geöffnet und geschlossen werden.
Welche vielfältigen Auswirkungen die Eröffnung der Linie Berlin–Potsdam nach sich zog, brachte der Schriftsteller Willibald Alexis (eigentlich Wilhelm Häring) in einem Beitrag für das Morgenblatt für gebildete Stände wie folgt auf den Punkt: »Gehen Sie die Leipziger Straße entlang, die zur Eisenbahn führt, man kennt sie nicht wieder; ein Hin- und Rückstrom von Fußgängern, Droschken, Kutschen und andern Fuhren; die festen, massiven Häuser dröhnen unter der fortwährenden Erschütterung, und Bewohner, welche vordem hier eine stille, schöne Straße, mit den Vorzügen von naher Landluft und Grün der Räume und des Feldes gesucht, möchten wieder tiefer in die Stadt hinein, um die verlorne Ruhe zu suchen. Wahrscheinlich wird die Industrie künftig die große Leipziger Straße bevölkern und eine Reihe Läden die Erdgeschosse einnehmen. Das sind nur die Erschütterungen und Umwälzungen, veranlaßt durch den Zustrom zur Potsdamer Eisenbahn; das Kochen und Donnern und Rasseln der Lokomotiven, die Dampfwolken und das Kreischen und Pfeifen der sich entladenden Kessel verändern vor dem Thore die Physiognomie der Stadt vollends. […] So mißtrauisch man Alles, was die Direktion gerade dieser Bahn unternahm, verfolgte, jetzt ist die Sache in’s Leben getreten, ihre gedeihliche Wirksamkeit ist augenfällig und handgreiflich, zwei Residenzstädte, zu den Zeiten unserer Großväter noch durch eine beschwerliche Tagereise getrennt, sind eins geworden, nur durch den leichten Weg von 3/4 Stunden getrennt. Potsdam wandert nach Berlin und Berlin nach Potsdam …«30
Im Dezember 1838 stand in den von 37 souveränen Bundesstaaten und vier freien Städten geprägten deutschen Landen die gegenüber Belgien verzögerte Eröffnung der ersten Staatsbahn auf dem Plan, nahm die Herzoglich Braunschweigische Staatseisenbahn die Strecke Braunschweig–Wolfenbüttel in Betrieb. Und nun stelle ich das Signal auf Rot. Eine qualvoll ermüdende Aufzählung und Kommentierung all der neuen Strecken und Eisenbahnlinien, die in den folgenden Dezennien zumeist ausgehend von Groß-, Hafen- und Residenzstädten sowie den Industriezentren in Betrieb genommen wurden, tut hier nicht not. Für fast alle von ihnen liegen im Übrigen ausführliche (lokal-)historische Abhandlungen vor.31
Aufgrund der deutschen Kleinstaaterei und auch der Konkurrenz zwischen den zunächst dominierenden Privatbahnen vollzogen sich Eisenbahnbau wie Strecken- und Linienführung im Laufe des 19. Jahrhunderts eher wildwüchsig als sinnvoll aufeinander abgestimmt – eine Tatsache übrigens, die sich bis heute im Schienenverkehr auswirkt. Der Bahnexperte Winfried Wolf erhellt: »Die Regierungen der einzelnen Länder, die mit dem Deutschen Bund lediglich über einen Zollverein verfügten, hatten das Interesse, möglichst viele Eisenbahnlinien auf ihrem Staatsgebiet zu konzentrieren, da hierdurch ein Maximum an Fracht- und Zolleinnahmen erzielt wurde. Entsprechend verlaufen einzelne Strecken – beispielsweise die Schwarzwaldbahn, die Verbindung München–Lindau und diejenige zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel – nicht entlang des kürzesten Wegs und auf dem Gelände, das einen kostengünstigen Bau des Schienenstrangs ermöglicht hätte, sondern entlang der Landesgrenzen: bei entsprechend unnötig verlängerten Schienenkilometern, gesteigerten Baukosten und den zum Teil bis heute bestehenden erhöhten Transportkosten.«32
In der bis in die 1840er Jahre reichenden ersten Periode der Entstehung der deutschen Eisenbahn ging es vor allem um die Planung und Festlegung der Strecken, denen überwiegend lokal-regionale Interessen zugrunde lagen. Die Finanzierung wurde fast ausschließlich durch private Mittel gedeckt, weil die Bundesstaaten und Freien Städte entweder kein Interesse am Bahnbetrieb hatten oder finanziell noch im zu jener Zeit stark vorangetriebenen Chausseebau engagiert waren. Die tonangebenden Kreise der Wirtschaft drangen indes nachdrücklich auf Herstellung eines dichten Eisenbahnnetzes. Nicht zuletzt Friedrich List strich sie immer wieder heraus – 1838 etwa in der Schrift Das deutsche National-Transport-System in volks- und staatswirthschaftlicher Beziehung. Seine Kernaussage verdient es schon hinsichtlich des zu jener Zeit virulent werdenden »Eisenbahnfiebers«, noch einmal ins Bewusstsein gerufen zu werden:
»Der wohlfeile, schnelle, sichere und regelmäßige Transport von Personen und Gütern ist einer der mächtigsten Hebel des Nationalwohlstandes und der Civilisation nach allen ihren Verzweigungen. […] Was die Dampfschifffahrt für den See- und Flußverkehr, ist der Eisenbahn-Dampfwagentransport für den Landverkehr, ein Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird von der Plage des Kriegs, der Theuerung und Hungersnoth, des Nationalhasses und der Arbeitslosigkeit, der Unwissenheit und des Schlendrians; der ihre Felder befruchten, ihre Werkstätten und Schachte beleben und auch den Niedrigsten unter ihnen Kraft verleihen wird, sich durch den Besuch fremder Länder zu bilden, in entfernten Gegenden Arbeit und an fernen Heilquellen und Seegestaden Wiederherstellung ihrer Gesundheit zu suchen. […] Eine neue Erfindung ist umso wichtiger und segensreicher, je mehr sie auf das Wohlsein und die Bildung der arbeitenden Classen, also der großen Mehrzahl der Völker wirkt. Nach diesem Maßstabe betrachtet, sind die Eisenbahnen die größte Erfindung der alten und neuen Zeit; sie sind eigentliche Volkswohlfahrts- und Bildungsmaschinen. […]
Wie unendlich wird die Cultur der Völker gewinnen, wenn sie in Massen einander kennen lernen und ihre Ideen, Kenntnisse, Geschicklichkeiten, Erfahrungen und Verbesserungen sich wechselseitig mittheilen. Wie schnell werden bei den cultivirten Völkern Nationalvorurtheile, Nationalhaß und Nationalselbstsucht besseren Einsichten und Gefühlen Raum geben, wenn die Individuen verschiedener Nationen durch tausend Bande der Wissenschaft und Kunst, des Handels und der Industrie, der Freundschaft und Familienverwandtschaft mit einander verbunden sind. Wie wird es noch möglich sein, daß die cultivirten Nationen einander mit Krieg überziehen, wenn die große Mehrzahl der Gebildeten mit einander befreundet sind …«33
Lists Vision einer Eisenbahn, die »die Individuen verschiedener Nationen« durch »tausend Bande« eng und friedlich miteinander verbindet, erfüllte sich leider im späten 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht. Heftig verspätet, also erst seit dem Bestehen der heute als EU firmierenden europäischen Gemeinschaft, tut sie es nun aber sehr wohl. Zumal mittels der 1972 vom Internationalen Eisenbahnverband (UIC) ins Leben gerufenen »größten Friedensbewegung Europas«, sprich den InterRail-Offerten, die jungen Rucksacktouristen das Bereisen europäischer Staaten durch eine günstige Fahrkarte erleichtern und das gegenseitige Kennenlernen fördern sollen.34 Der 2016 im EU-Parlament erörterte Vorschlag, allen jungen Leuten der Union zum achtzehnten Geburtstag ein kostenloses InterRail-Ticket in die Hand zu drücken, scheiterte allerdings an der EU-Kommission. Viel zu teuer, wehrte sie ab und fügte hinzu, sie könne unmöglich nur ein einziges Verkehrsmittel bezuschussen, sprich die Eisenbahn gegenüber dem Flugzeug und Kraftfahrzeug bevorzugen. Inzwischen verliert InterRail bezeichnenderweise an Attraktivität, weil die Fahrkartenpreise im Vergleich zu den Angeboten der Billigflieger und Fernbusse vergleichsweise hoch sind.35
In den 1830er Jahren tickten die Uhren noch ganz anders, verfehlten Vorschläge für die grundsätzliche Bevorzugung des freilich von anderen mechanischen Landverkehrsmitteln noch nicht bedrängten Eisenbahnsystems