Idealerweise haben die Sittlichkeit des Ganzen und die Moral des Einzelnen in eins zu fallen. »Das Recht der Individuen an ihre Besonderheit ist ebenso in der sittlichen Substantialität enthalten, denn die Besonderheit ist die äußerlich erscheinende Weise, in der das Sittliche existiert«11. Erst als Bürger des historischen Staates, dem er je angehört, vermag der Einzelne, seine Freiheit in vernünftigem Einklang mit anderen Individuen zu verwirklichen. Die Potenz zur Versöhnung moralischer Antagonismen liegt in der totalisierenden Vernunft, welche für Hegel sich in der Erscheinung des preußischen Staates manifestiert. Die subjektive Freiheit lebt von der Einsicht in die gesellschaftliche Notwendigkeit – e contrario. Dieser Satz wird im Marxismus weder seine Evidenz noch die Gefahr seines Missbrauchs verlieren. Der Last, bedingungslos gut sein zu müssen, ist das Subjekt durch Hegel enthoben. Adorno weiß dies zu würdigen:
»Zur bürgerlichen Verherrlichung des Bestehenden gehört immer auch der Wahn hinzu, daß das Individuum, das rein Fürsichseiende, als welches im Bestehenden das Subjekt sich selbst notwendig erscheint, des Guten mächtig sei. Ihn hat Hegel zerstört. Seine Kritik an der Moral ist unversöhnlich mit jener Apologetik der Gesellschaft, welche, um sich in ihrer eigenen Ungerechtigkeit am Leben zu erhalten, der moralischen Ideologie des Einzelnen, seines Verzichtes auf Glück bedarf.«12
2. Marx
Weit diffiziler noch als bei Hegel gestaltet sich eine Deduktion moralischer Prinzipien aus Marx. Was diesem als Errungenschaft angetragen wird, den anderen ›vom Kopf auf die Füße‹ gestellt zu haben, macht die Konstruktion einer normativen Ethik ebenso unausführbar wie im geistigen Gehäuse des spekulativen Idealismus. Wie Hegel bei der Lösung des Kategorialproblems Einzelheit – Allgemeinheit reüssierte, so scheiterte er an den Varianten desselben: Sein – Sollen, Wunsch – Wirklichkeit, Autonomie – Heteronomie, Voluntarismus – Fatalismus, Qualität – Quantität. Dem Unerledigten dieser Dualismen sich ganz zu widmen, es ins Bewusstsein zu heben, versprach der Marxismus. Ich-Erlebnisse können von nun an im Objektzusammenhang betrachtet werden. Das gestörte Verhältnis des Individuums zur Realität erlangt mittels dieser Begriffspaare überhaupt erst die Möglichkeit zu sagen, was es nicht sagen kann. Ihr Ausgesprochensein öffnet die Türe zur Wirklichkeit. Materielles kommt zu Wort, erfährt keine Auslassung mehr. Inlogisation des Realen statt Inkarnation der Idee. Dualismus kann, muss jedoch nicht, zu einer schizophrenen Perzeption von Wirklichkeit führen. Erweist Abstraktion sich nicht als Äquivalent des Empfundenen, spaltet sie. Die Abwesenheit der alles bedingenden Materie produziert Irrealität und psychisches Reservat. Geisterreiche entstehen. Der dialektische Materialismus debütiert gegen die Verdinglichung bürgerlichen Kalküldenkens:
»Kant hatte die Unbeweisbarkeit der existierenden Außenwelt als Skandal der Philosophie bezeichnet, Schelling die Undefinierbarkeit der Materie; der Marxismus, dem diese beiden Arten des ›Skandalon‹ (Falle) fremd sind, will für sich Skandal und Crux zugleich aufheben. Die unübersichtliche Crux: Einzelheit – Allgemeinheit wird gleichsam umgedreht und erscheint dann als das weit einfachere Skandalon: Kalkül – qualitative Materie.«13
»Prozess-Materie« (Bloch) bewegt sich dynamisch, nicht mechanisch, das heißt, sie ist theoretisch-praktisch durchkreuzt von Bewusstsein und Unbewusstem. Vermittelt in Denken und Sprache verlässt sie den Bannkreis des Kausaldeterminismus. Qualität kommt ins Spiel. Der Materialismus quantitativer Natur, wie die Franzosen im 18. Jahrhundert (Lamettrie, Diderot, Helvétius, Holbach etc.) ihn pflegten, ist überwunden. In der rein physikalischen Bewegung bleibt das Subjekt undeutlich und singularisiert im Hintergrund. Marx erst findet es als gesellschaftliches, arbeitendes (Bloch später als hoffendes). So schlägt er die Brücke zum Selbstbewusstsein.
Der Marxismus decouvriert nicht nur das beschränkende Prinzip der Materie (besonders in moralischer Hinsicht), sondern auch ihre utopische Beschaffenheit, ihre Möglichkeitsform:
»Es gibt qua dynamei on den wichtigen Bogen Utopie – Materie; ihn begreifen ist jede Philosophie an der Front dem Weltexperiment schuldig. Hier vor allem ist Materie nach vorwärts; und das nicht nur als Maßgabe und Träger der Bedingungen, nach denen etwas möglich sein kann, sondern erst recht als Substrat des objektiv-real Möglichen überhaupt […].«14
Marx’ Empfinden für die gelebte Wirklichkeit rettet Hegel methodisch in unsere Zeit. Die Spekulation wird negiert, der Idealismus in Materialismus verkehrt. Der im Selbstbewusstsein sich erfassende Weltgeist verteidigt als kommunistische Internationale seine zentrale Position. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. »Es genügt nicht, daß der Gedanke zur Verwirklichung drängt, die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen.«15 Ursache des Hindrängens kann nicht das Denken sein. Marx’ entscheidende Erkenntnis (nach Schelling): des Vordenklichen bedarf es, Materie also. Die spiegelt sich im Bedürfnis wider, welches urhaft sich meldet, die Dinge bewegt, drängt und mit Recht nach der es erfüllenden und ihm entsprechenden Wirklichkeit verlangt. Die Substanz des Bedürfnisses aber ist materiell. Dass bloße Ideen kein insurgierendes Proletariat hervorbringen, darin sieht Marx von jeher eine »Hauptschwierigkeit«. »Die Revolutionen bedürfen nämlich eines passiven Elementes, einer materiellen Grundlage. Die Theorie wird in einem Volke immer nur so weit verwirklicht, als sie die Verwirklichung seiner Bedürfnisse ist.«16 Im ›Gedanken‹ erhält die ›Prozess-Materie‹ nur das Bewusstsein ihrer eigenen Bewegung, das heißt von sich selbst. Dies gilt auch für die Moral. Wird diese nicht auf ihre Materialität, das heißt auf ihre Bedürfnisgeschichte hin analysiert und reduziert, tritt die ideologische Form bürgerlicher Sittsamkeit nie als eine solche ins Licht kritischer Erkenntnis; die moralische Zweideutigkeit des bourgeoisen Milieus würde weiter ihre uneingeschränkte Kultivierung auf Kosten anderer erfahren. Der prüfenden Frage à quoi bon? hat auch sie sich zu stellen. Das Wissen um den doppelten Boden jeder Ethik ist die unmittelbare Folge der Aufdeckung ihres materiellen Wesens. Eine Einsicht, zu welcher auf anderen Wegen auch Freud gelangt ist.
Die duplizitäre Struktur der Moral verdankt sich der irrtümlichen Annahme der Vorrangigkeit des Denkens gegenüber dem Sein, der Vernunft gegenüber den Trieben. Religiöse Vorstellungen tragen ihr Übriges bei. Der Bruch mit der Metaphysik erhält für Marx deshalb Priorität. Philosophie wünscht er sich ›aufgehoben‹, als Übergang in kritische Theorie von Gesellschaft.
»Aufhebung der Philosophie ist Aufhebung der Metaphysik, negativ die Entontologisierung und Enttheologisierung, positiv die Historisierung und Humanisierung der Philosophie. An die Stelle der ontotheologischen Verfassung der Philosophie tritt der praktisch-historisch begründete Humanismus in der Philosophie.«17
Die uralte onto-theologische Scheidung der Welt in Gutes, Ideales, Tugendhaftes auf der einen und Malignes, Materielles, Sündhaftes auf der anderen Seite, kurz: die Teilung des Bestehenden in Geist und Fleisch, trieb das Individuum über Jahrtausende in eine psychotische Verfasstheit und Fremdbestimmung. Diesen Zustand der Nicht-Identität von Subjekt und Objekt, des Psychischen mit seiner Außenwelt, aufzulösen und den Menschen zu sich selbst als ›Gattungswesen‹ zu befreien, stellt Marx sich als vornehmste Aufgabe. Eine, welcher an ›radikaler‹ Entschlossenheit es nicht mangelt:
»Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst. […] Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzustürzen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist […].«18
Konsequenter Materialismus spricht hier, dialektisch wie historisch. Keine positive Moral wird konstruiert, Kritik stattdessen postuliert. Bestimmte Negation jedoch enthält das Ferment des Positiven. Ihr erwächst der Mut zur Veränderung, zum Umsturz des ›schlecht Vorhandenen‹. Wie die Bewegung der Materie, kann auch Moral nur aus Bedürfnis entstehen. Aller Sittlichkeit inhäriert eine zutiefst materielle Dynamik. Marx identifiziert sie als gesellschaftlichen