Zeitschrift für kritische Theorie / Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 36/37. Thomas Jung. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Jung
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Афоризмы и цитаты
Год издания: 0
isbn: 9783866746640
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zur letalen Konsequenz entfalteten Recht des Stärkeren mit Vernunft und Zivilisation zugleich auch Natur fadenscheinig geworden ist: »Allein die abgefeimte Kraft, die überlebt, hat Recht. Sie selbst ist wiederum Natur allein, die ganze ausgetüftelte Maschinerie moderner Industriegesellschaft bloß Natur, die sich zerfleischt«22. Eine wie immer auch klare begriffliche Unterscheidung zwischen Natur und Gesellschaft verliert ihre Überzeugungskraft angesichts dieser geschichtlich zu Tage getretenen Verschränkung zur Ununterscheidbarkeit, die ihr spezifisch dialektisches Moment23 darin besitzt, dass zum einen die menschliche Geschichte als Fortsetzung eines bloß natürlichen Fressen und Gefressen-Werdens erscheint (ND, 364 f.), während zum anderen zugleich die Unterdrückung der Natur selbst als Naturverhältnis auftritt (ND, 179): »Je hemmungsloser jedoch die Vernunft in jener Dialektik sich zum absoluten Gegensatz der Natur macht und an diese in sich selbst vergißt, desto mehr regrediert sie, verwilderte Selbsterhaltung, auf Natur; einzig als deren Reflexion wäre Vernunft Übernatur« (ND, 285).

      Gerade wegen der begrifflichen Unterscheidung zwischen Vernunft und Natur, so lässt sich Adornos Argumentation resümieren, herrscht in der Gesellschaft (noch) dasselbe Prinzip wie in der Natur: Zwang.24 Adorno bestimmt also auch die Natur konsequent negativ, nämlich als mythische Unausweichlichkeit von Untergang, Tod und Verwesung,25 und hält zugleich fest, dass ein Entkommen aus dem Naturzusammenhang überhaupt nur entstelltem Leben versprochen ist.26

      Eine Erläuterung dieser zunächst etwas eigentümlich erscheinenden Wendung verlangt nach einer konsequenten Berücksichtigung der negativen Dialektik von Gesellschaft und Natur, in deren Bann schließlich auch der »heile« Leib unausweichlich verbleibt und also noch nicht der Immanenz entkommen ist. Schon im Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der Aufklärung haben Horkheimer und Adorno diesen Zusammenhang aufgespießt: »Vergnügtsein heißt Einverstandensein.«27 Diese wie immer provokativ verkürzte Formel weist nicht nur dem heilen Leib die Potenz unbefangen-hedonistischen Genießens zu, sondern unterstellt ihm, sicher nicht zu Unrecht, ein grundsätzlich affirmatives Verhältnis zum jeweils Bestehenden. Einen unbeirrt kritischen Orientierungspunkt liefert hingegen der entstellte Leib, dessen Leiden, eben ganz unabhängig vom jeweils Bestehenden, permanent das unbedingte Beharren auf einer notwendigen Veränderung produziert: »Das leibhafte Moment meldet der Erkenntnis an, daß Leiden nicht sein, daß es anders werden solle. ›Weh spricht: vergeh.‹ Darum konvergiert das spezifisch Materialistische mit dem Kritischen, mit gesellschaftlich verändernder Praxis« (ND, 203).

      Adornos entschiedene Zurückweisung des »heilen« Leibs markiert eine unüberwindliche Grenze zum emphatisch emanzipatorischen Verständnis der Biopolitik bei Michael Hardt und Antonio Negri, denn diese fassen »Leben« tendenziell überhistorisch, wenn sie in der »Multitude« eine von sich aus egalitäre progressive Kraft bemühen, welche die Immanenz des »Empire« tendenziell bricht.28 Für Adorno ist hingegen der somatisch fundierte Impuls nach dem Muster des »Weh spricht: vergeh« und damit der Affekt konkreter Akteure entscheidend – und eben nicht eine Ontologisierung von Begriffen wie Empire und Multitude, denen sich die Qualität einer »autopoetische[n] Maschine« zubilligen ließe.29

      Die scharfe Differenz zwischen Adorno und Hardt/Negri lässt sich terminologisch markieren. Schließlich besitzt die von Hardt/Negri vorgelegte Diagnose einer als »Empire« bezeichneten neuen Souveränitäts-Logik im Zeichen immaterieller Arbeit30 ihre konstitutive Voraussetzung in der Diagnose, dass Natur und Kultur bzw. Gesellschaft einen Immanenzzusammenhang bilden.31 Wenn Adorno hingegen eben diese Immanenz explizit mit dem Prädikat »dialektisch« (ND, 145) belegt, dann hält er fest, dass die Verschränkung von Natur und Gesellschaft für die Reflexion allein so lange undurchdringlich bleibt, bis diese unversehens mit mimetischsomatischen Elementen konfrontiert wird und sich mit ihnen verbindet zu einem unmittelbaren Impuls zu Kritik, Veränderung und Befreiung.32

      Erst entstelltes Leben, der als leidende nichtidentische Leib, durchbricht den Bann der Identität, der für das Bewusstsein undurchdringlich sein muss, weil Identität gerade sein Funktionsprinzip ausmacht. Auf diesem eminent rationalitätskritischen Muster gründet Adornos negative Moralphilosophie, die eine rein diskursive Behandlung zurückweist und stattdessen unablässig um ein »Moment des Hinzutretenden am Sittlichen« (ND, 358) als notwendiger Bedingung überhaupt für Moral kreist.33 Eine rein rationale Begründung von Moral erscheint Adorno ausgeschlossen; vielmehr kommt Wahrheit moralischen Sätze wie »Leiden soll nicht sein« nur zu, wenn ihnen ein unmittelbarer Impuls zugrundeliegt: »Wahr sind die Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie dürfen sich nicht rationalisieren; als abstrakte Prinzipien gerieten sie sogleich in die schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit« (ND, 281).

      Adornos Moralphilosophie ist hier nicht weiter zu verfolgen; ihre Bedeutung für die behandelten Zusammenhänge lässt sich mit Ulrich Kohlmann auf den Punkt bringen: »Moral ließe sich ohne denkendes Subjekt nicht konkretisieren, aber ohne Physis wäre sie schlechthin nicht.«34 An diese Diagnose ist die Einsicht anzuschließen, dass Adornos Kritik am Identitätsprinzip mit der Privilegierung des Somatischen, des leidenden Leibs, zum entscheidenden Element in der historisch-dialektischen Immanenz von Gesellschaft und Natur, eine strukturell große Nähe zu herrschaftstheoretischen bzw. -kritischen Motiven im aktuellen Diskursraum der Biopolitik aufweist.

      Diesen Zusammenhang verdeutlicht schon eine knappe Vergegenwärtigung der Grundlagen dieses Projekts, die Michel Foucault 1978 / 79 in zwei Vorlesungen zur Geschichte der Gouvernementalität am Collège de France skizziert hat.35 In Foucaults historischer Analyse des Phänomens »Regierung« markiert die Entstehung der Politischen Ökonomie im aufkommenden Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts eine entscheidende Schwelle:36 Das liberale Credo von der Gesellschaft als Naturzusammenhang leistet einen argumentativen Rekurs auf die von der merkantilistischen und kameralistischen Staatsräson gerade verworfene Natur, fasst diese jedoch nicht mehr wie ehedem theologisch geprägt als Material eines Schöpfungsplans auf. Im neuen Verständnis, das sich gemeinsam mit der Durchsetzung des Liberalismus etabliert hat (und bis heute nachwirkt), entspricht der bemühte Naturzustand vielmehr einer vermeintlichen Naturalität der Gesellschaft, die etwa in den Prinzipien des Profits und der Konkurrenz (Adam Smith) sowie des Kampfes ums Dasein bei einem Überleben der Stärkeren (Darwin) auf dem seit dem 19. Jahrhundert etablierten sogenannten freien Markt ihren adäquaten Ausdruck finden soll. Foucault dekonstruiert diese Natürlichkeits-Überzeugung als historisch gewordene »zweite Natur« der bürgerlichen Gesellschaft, in der nicht mehr die Legitimität oder Illegitimität von Macht, sondern Erfolg und Misserfolg als leitende Kategorien wirken.37

      In der Negativen Dialektik wird, ohne eine direkte Verwendung des Begriffs »zweite Natur«, der ihm entsprechende Gehalt anlässlich einer scharfen Kritik an Freud als »blinde und bewußtlose Verinnerlichung von gesellschaftlichem Zwang« (ND, 269) erfasst und als »inwendige Natur« ans Ende eines perfiden geschichtlichen Fortschreitens der Naturbeherrschung zur Herrschaft über Menschen gesetzt (vgl. ND, 314). Wenn ausgerechnet Zwang dasjenige Moment darstellt, das Natur und Gesellschaft vereinigt, fällt eine positive Besetzung beider Phänomene aus, so dass die Diagnose ausweglos erscheint. Adornos negative, materialistisch gewendete Moralphilosophie bezieht jedoch in dieser vermeintlich ausweglosen Situation die Position des ausgeschlossenen Dritten: »Dem Einzelnen indessen bleibt an Moralischem nicht mehr übrig, als wofür die Kantische Moraltheorie, welche den Tieren Neigung, keine Achtung konzediert, nur Verachtung hat: versuchen, so zu leben, daß man glauben darf, ein gutes Tier gewesen zu sein« (ND, 294).

      Mit der konsequenten Entwertung des subjektiv-idealistischen Betrachterstandpunkts lässt sich, einem Hinweis Miguel Vatters folgend,38 Adornos bemerkenswert dialektisches Fazit über den Wahrheitsgehalt von Kants Lehre vom Intelligiblen in der Negativen Dialektik einem Ansatz zur Seite stellen, den einer der wichtigsten Nachfolger Foucaults in die biopolitische Debatte eingebracht hat: Wenn Adorno wie nebenbei die herkömmliche Differenz zwischen Mensch und Tier aufhebt und das Potential zu einer Befreiung der Menschheit nicht etwa einer Negation der Animalität zuspricht, sondern einer entwertenden Überwindung des vorgeschichtlich-basalen abstrakten Gegensatzes von humanitas und animalitas,39 dann befindet sich diese Wendung in einer überraschenden Nähe zu Giorgio Agambens utopischer Idealvorstellung, die »anthropologische Maschine« außer Kraft zu setzen.40

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