Auch die Bildungsforschung ist ein solcher Fall von Variablensoziologie. In ihr kommt nicht vor, daß ein und dieselbe Merkmalszuschreibung entgegengesetzte Verhaltenserwartungen begründen könnte. Führt die Tatsache, daß die Eltern Migranten sind, wegen der durchschnittlichen Einkommensschwäche dieser Gruppe zu Bildungsrückständen oder wegen der Ambitionen dieser Gruppe auf Neuanfang sowie ihrer Bereitschaft, Entbehrungen auf sich zu nehmen und sich auf unbekannte Umgebungen einzustellen, gerade zu Bildungsaspirationen? Die Variable selber gibt darüber keine Auskunft. Wieso korreliert der sozioökonomische Status der Eltern auch mit ihrer Bereitschaft, den Kindern vorzulesen, wenn Vorlesen in einer Gesellschaft mit Leihbibliotheken gar kein Geld kostet? Weshalb schrecken Studiengebühren angeblich Abiturienten aus einkommensschwachen Milieus vom Studium – aber nicht vom Mobiltelefonieren und vom eigenen PKW – ab, ohne daß die regional unterschiedliche Einführung von Studiengebühren Wanderungsbewegungen auslöst? Hängt es, in den Worten Abbotts, mit einer fundamentalen Zweideutigkeit der Kategorie »Einkommen« als Quelle sowohl des Sparens wie auch des Konsums zusammen, die es verwehrt, aus der Einkommenshöhe eindeutige Schlüsse auf Verhalten zu ziehen? Wie soll es kommen, daß das Kind eines Facharbeiters zu jedem Zeitpunkt seiner Bildungslaufbahn das Kind eines Facharbeiters ist, sobald es jedoch die Hochschulreife erworben und studiert hat, seine eigenen Kinder Akademikerkinder sind, die gewissermaßen der Herkunftsklasse ihrer Eltern verlorengegangen sind und nicht mehr in deren Erfolgsbilanz eingestellt werden?
Würde die Bildungssoziologie mehr über ihre Variablen und ihre Kausalitätsbegriffe nachdenken, was sie nicht tut, so wäre dadurch allerdings die Frage nach der schulischen Wirklichkeit, die daraus Folgerungen zu ziehen hätte, noch nicht beantwortet. Ob überhaupt Unterricht stattfindet, ist in bezug auf die zur »Restschule« heruntergeredete Hauptschule vielerorts die wichtigere Frage als die nach der sozioökonomischen Zusammensetzung ihrer Schülerschaft. Der Kampf gegen die Schulstruktur, der sich mit Ungleichheitsforschung munitioniert und insofern zum Denken in Variablenkausalität paßt, verdeckt womöglich, wie sehr die Bildungserfolge vom Unterricht und von der professionellen Stabilität des Lehrpersonals abhängen anstatt von der Struktur des Schulwesens. Daß die Schule nicht voraussetzungslos arbeitet, kommt hinzu. Soziologisch betrachtet, ist es unwahrscheinlich, daß eine Organisation, die über wenig mehr verfügt als Unterrichtsstunden, auszugleichen vermag, was, je nach Deutung, der Kapitalismus, die Klassengesellschaft, die Medien oder die Familien angerichtet haben. Vermutlich wäre viel gewonnen, wenn man sie tun ließe, was sie kann, anstatt sie ständig im Hinblick auf etwas zu reformieren und zu kritisieren, was ohnehin nicht in ihrer Macht steht.
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