Es ist schon spät in der Nacht. Sandokan, der malaiische Piratenkönig, sitzt inmitten seiner Schätze in Gesellschaft seines Freundes Yanez und brütet dumpf vor sich hin.
»›Gibt es einen Gedanken, der dich quält?‹, begann Yanez von Neuem. ›Bald könnte man glauben, du grämst dich, weil dich die Engländer so hassen.‹
Wieder schwieg der Pirat.
Der Portugiese stand auf, zündete sich eine Zigarette an, ging zu einer Tür hinüber, die von der Wandverkleidung verdeckt wurde, und sagte:
›Gute Nacht, mein Bruder.‹
Bei diesen Worten fuhr Sandokan auf. Er hielt den Portugiesen zurück und sagte:
›Auf ein Wort, Yanez.‹
›Sprich nur.‹
›Weißt du, dass ich nach Labuan segeln will?‹
›Du! … Nach Labuan!‹«
Das ist Irrsinn, wie sie alle beide wissen. Denn auf Labuan, wenige Kilometer vor der Küste von Nordborneo gelegen, unterhalten die Briten eine starke Garnison. Schon seit 1846 sitzen sie hier; in diesem Jahr hatten sie den Sultan von Brunei besiegt und ihn gezwungen, die bislang unbesiedelte Insel abzutreten. Sie schien ihnen der ideale Posten, um von dort aus die Seeräuberei im Südchinesischen Meer zu bekämpfen. Sich dorthin aufzumachen, heißt für Sandokan, sich in die Höhle des Löwen zu wagen.
Aber hier lebt die wunderschöne blonde Marianna, genannt »die Perle von Labuan«. Ein einziges Mal nur hat Sandokan sie erblicken dürfen; doch so, dass es sich ihm eingebrannt hat für immer. Ein böser Onkel hält sie in der Festung wie eine Gefangene; und es ist klar, da wird der Pirat sie herausholen, koste es, was es wolle!
»Sandokan war vorgesprungen, mit wutverzerrten Lippen, wild funkelnden Augen, die Hände krampfhaft geschlossen, so als hielten sie eine Waffe umklammert. Es war jedoch nur ein kurzes Aufblitzen. Er setzte sich an den Tisch, leerte in einem einzigen Zug ein noch gefülltes Glas und sagte mit vollkommen ruhiger Stimme:
›Du hast recht, Yanez. Und dennoch werde ich nach Labuan gehen. Eine unwiderstehliche Macht treibt mich an diese Gestade und eine Stimme flüstert mir zu, dass ich dieses Mädchen mit dem goldenen Haar sehen muss, dass ich … ‹
›Sandokan! … ‹
›Still, mein Bruder. Lass uns schlafen gehen.‹«
Der »Tiger von Mompracem«, wie sich Sandokan auch nennen lässt (und wie auch der Titel des Romans lautet, während die deutsche Fernsehverfilmung, mit Lex Barker und Senta Berger, es bei »Sandokan« bewenden ließ), wird schließlich alle Hindernisse überwinden und mit Marianna entfliehen; aber es wird ihn und seine britischen Todfeinde Hunderte von Toten kosten – nicht zu viel für eine gute Oper, wie der Autor Emilio Salgari, Italiens Gegenstück zum deutschen Karl May, sich wohl gesagt hat.
Labuan war zunächst eine eigenständige Kronkolonie und wurde seit 1890 von der British North Borneo Chartered Company verwaltet. (Man achte beim abgebildeten Exemplar darauf, dass es, ungewöhnlich für das Zeitalter des Kolonialismus, auch chinesisch und arabisch beschriftet ist.) Es gehört heute zu Malaysia und genießt seit 1984 den Status eines Bundesterritoriums.
Labuan hat heute 100.000 Einwohner und ist ein bedeutendes internationales Finanzzentrum geworden, spezialisiert auf schariaverträgliche islamische Finanzstrukturen und wealth management. Ungefähr gleich weit von Singapur, Manila und Hongkong entfernt, zieht es den Luxustourismus an und empfiehlt sich für Hochseefischen, Wracktauchen und Golf. Mit Sandokans Dschungelparadies dürfte es nicht mehr viel Ähnlichkeit haben.
Sorgsam wie eine diplomatische Note ist die Briefmarke der britischen Mandatsverwaltung konstruiert. Sie zeigt den Jerusalemer Felsendom, heilig den Muslimen, weil hier der Prophet Mohammed zum Himmel auffuhr, heilig den Juden als der Ort von Abrahams Opfer. Strikt symmetrisch wie das Heiligtum ist die Beschriftung, rechts in Arabisch, links in Hebräisch, und wie seine Kuppel wölbt sich der internationale Name über beiden. Sieht die Marke nicht aus wie das Emblem der »Balfour Declaration«? Diese lautet:
»Seiner Majestät Regierung betrachtet die Errichtung eines Heimatlandes für das jüdische Volk in Palästina mit Wohlwollen und wird ihr Möglichstes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, mit dem Vorbehalt, dass nichts geschehen soll, was in die bürgerlichen und religiösen Rechte vorhandener nichtjüdischer Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status, den die Juden in anderen Ländern genießen, eingreift.«
Selten in der Historie hat ein so kurzer Text – 67 Wörter im englischen Original – für so dauerhafte Unruhe gesorgt wie diese Erklärung, die der britische Außenminister Arthur Balfour am 2. November 1917 abgab. Die Geschichte Palästinas im 20. Jahrhundert – und nicht nur Palästinas – ist im wesentlichen die Geschichte der unterschiedlichen Interpretation dieses Schriftstücks, und meist geschah diese Interpretation gewaltsam. Als die Deklaration verkündet wurde, herrschte im Land Krieg; die Alliierten hatten der mit den Mittelmächten verbündeten Türkei bereits Jerusalem entrissen, aber in Samaria und Galiläa standen noch osmanische und deutsche Truppen. Der vorsichtige Wortlaut mit seinem vorsätzlich »dualen Charakter« bemühte sich um die Unterstützung beider Bevölkerungsteile, der Araber und der Juden. Das konnte schon damals nicht gelingen: Die Zionisten nahmen den Text als die Zusage eines jüdischen Staates (die er, genau betrachtet, nicht enthält), die palästinensischen Araber ließen sich durch seine Garantien keineswegs beruhigen.
Palästina war schon in ältesten Zeiten ein Streitobjekt dieser beiden Völker gewesen. Man braucht sich nur an die Konsonanten zu halten (die Vokale spielen in den semitischen Sprachen eine geringere Rolle), um zu erkennen, dass sich in den Palästinensern niemand anderes verbirgt als die biblischen Philister. Auch die Orte des Kampfes sind dieselben geblieben, nur die Taktik hat gewechselt: Hatte der jüdische Recke Samson noch die Tore der Philisterstadt Gaza ausgehoben und weggetragen, um ihren Widerstand zu brechen, so sollte die israelische Regierung später zum selben Zweck Gazas Tore geschlossen halten.
Die Neuzeit für Palästina begann mit Theodor Herzls Buch »Der Judenstaat« und der jüdischen Immigration, die daraufhin kurz vor 1900 einsetzte. Als Großbritannien 1918 das Mandat übernahm, sah es sich bereits mit zwei Nationen konfrontiert, von denen jede das Land ganz für sich in Anspruch nahm; es zu verwalten, erwies sich als eine undankbare Aufgabe. Durch die fortdauernde jüdische Einwanderung – 1920 waren nur 12,9 Prozent der Bevölkerung jüdisch, 1929 bereits 18,9 Prozent, 1940 knapp ein Drittel – fühlten sich die Araber bedroht, zumal sie an ökonomischer Kraft weit zurückstanden. Als eine britische Kommission eine Teilung des Landes vorschlug, lehnten die Araber dies empört ab, und 1938 brach der offene Bürgerkrieg aus, es gab mehrere Tausend Tote. Der Konflikt konnte nur durch Landung massiver Truppenverbände beendet werden. Ein arabischer Gegenvorschlag, den Juden eine autonome Sonderstellung in einem palästinensischen Staat zu gewährleisten, wurde wiederum von diesen aufs entschiedenste zurückgewiesen.
Im Zweiten Weltkrieg hielten die beiden feindlichen Lager im Großen und Ganzen Frieden – nicht nur die Juden, die einsahen, dass Großbritannien in seinem Kampf mit dem faschistischen Deutschland nicht geschwächt werden durfte, sondern bemerkenswerterweise auch die Araber. Gelöst waren die Probleme damit aber nicht; sie tauchten heftiger denn je wieder auf, als die britische Mandatsmacht 1948 abzog und einem neuen Staat das Feld räumte: Israel.
Diese Briefmarke präsentiert sich vor allem als ein Bild – als ein Bild so, wie man es sich vor 100 Jahren gern übers Sofa hängte. Das Wichtigste an einem solchen war der wuchtige, reich verzierte Rahmen, der dem, was innen gemalt war, seine Bedeutung zusprach, es dem Vergnügen des Betrachters empfahl und ihn zugleich versicherte, es im Griff zu haben. Europäische Mächte