»Und?«
Leonard drehte sich zu mir um, packte mich mit beiden Händen am Revers und redete fieberhaft auf mich ein.
»Sie sind alle abgegangen. Alle, Adrian. Sie gingen alle auf einmal auf und das Tuch gab so ein komisches, lachendes Geräusch von sich und sprang in die Luft, wickelte sich um meinen Kopf und versuchte, mich totzupeitschen und zu ersticken. Aber ich konnte mich irgendwie befreien und seitdem stehe ich hier in dieser Ecke und warte auf dich, damit wir es gemeinsam erwürgen können, falls es noch mehr Ärger macht.«
»Leonard«, sagte ich und löste behutsam seine Hände von meiner Jacke, »diese Leinwand ist ein lebloser Gegenstand. Sie hat kein Gehirn. Es ist nur eine Frage der richtigen Technik, um das Tuch zu befestigen. Das ist sicher knifflig, weil es sehr straff gespannt werden muss, weißt du. Sonst wären die Dias nicht richtig scharf.«
Thynn schüttelte langsam und zynisch den Kopf und sah mich an wie ein Mann, der mit knapper Not der Verfolgung einer wilden, angeblich ausgestorbenen Kreatur entkommen ist und nun Mühe hat, den Menschen daheim in der Zivilisation plausibel zu machen, was ihm passiert ist.
»Na, dann versuch du es mal«, sagte er. »Ich gehe nicht mehr in die Nähe dieses Dings. Es hasst mich.«
Während Thynn aus sicherem Abstand zuschaute, ging ich auf das Monster in der Mitte des Saals zu und musterte es einen Augenblick lang. Zufällig kannte ich den Trick, wie man die Leinwand an dem Rahmen befestigte, weil ich das schon einmal für eine Gemeindeveranstaltung gemacht hatte. Im Grunde war es geradezu lächerlich einfach, wenn man wusste, wie. Einen Moment lang liebäugelte ich mit dem inneren Anblick meiner selbst, wie ich mit links etwas erledigte, was Leonard nicht zustande gebracht hatte. Eigentlich lachhaft, die ganze Sache, wenn man bedenkt, wie chronisch unfähig ich zu allen praktischen Dingen bin.
Lass Leonard das machen.
Ulkig, wie einem manchmal so kleine Dinge in den Kopf kommen, nicht wahr? Kleine Eingebungen, die einerseits von Gott stammen, andererseits aber auch nur ein Haufen Blödsinn sein können, wie zum Beispiel bei jener denkwürdigen Gelegenheit, als ich dachte, Gott hätte mir vielleicht gesagt, ich solle mir einen Laubfrosch kaufen und ihn Kaiser Wilhelm nennen. Ich dachte schon, die Geschichte würde mich bis ans Grab verfolgen. Wenn ich es recht bedenke, kann es durchaus noch so weit kommen. Die anderen wärmen diese Sache immer noch jedes Mal auf, wenn sie finden, dass ich mal wieder auf den Teppich geholt werden müsste.
Lass Leonard das machen.
»Weißt du was, Leonard? Wie wär’s, du versuchst mal, die Knöpfe an zwei diagonalen Ecken festzumachen und dann von da aus weiterzuarbeiten?«
»Meinst du, das funktioniert?«
»Einen Versuch wäre es wert.«
Wie ein Jäger beim Anpirschen an einen waidwunden Büffel tastete er sich behutsam bis zu der Leinwand vor und löste, ein Auge zugekniffen, die beiden Knöpfe, die nach seiner letzten Attacke noch gehalten hatten. Wenige Minuten später hatte Leonard mit für seine Verhältnisse beängstigender Leichtigkeit alle Knöpfe befestigt und die Leinwand fest in den Rahmen eingespannt.
»Na so was«, sagte Thynn, als er zurücktrat und die Stätte seines Triumphes begutachtete, »das war der richtige Trick! Ich glaube, während der Tournee sollte lieber ich mich um solche Dinge kümmern, Adrian. Man braucht ein bisschen Fingerspitzengefühl dafür. Am besten überlässt du das mir.« Schließlich fügte er frotzelnd hinzu, »wollen wir ja nicht, dass etwas kaputtgeht, oder?«
Spielte mit dem Gedanken, einen Teil der Saalbestuhlung auf seinem Schädel zu zerschlagen, beschloss aber dann, diese Segnung für mich zu behalten …
Donnerstag, 16. September
Morgen beginnt die Tournee!
Heute Abend kamen alle bei uns zum Kaffee zusammen, um letzte Absprachen zu treffen und Barry mit den anderen bekannt zu machen. Edwin, unser Gemeindeältester, war auch da, sozusagen als Abordnung meiner Unterstützergruppe in der Gemeinde.
War ein bisschen nervös, bevor unser Wohltäter eintraf, und noch nervöser, nachdem er schon eine Weile da war. Fing ernsthaft an, mich zu fragen, ob es nicht doch besser wäre, die ganze Sache mit kleinem Budget durchzuziehen. Ich glaube, die Tatsache, dass er das Ganze finanziert, ist ihm ein bisschen zu Kopf gestiegen. Am Anfang des Abends ging eine Menge Zeit damit drauf, dass Ingstone uns Vorträge darüber hielt, wie wir leben, denken und fühlen sollten, natürlich untermauert von einer Vielzahl von Versen aus einem verwirrenden Arsenal biblischer Bücher.
Angels starrte ihn an, als käme er vom Mars. Edwin machte ein leicht verwundertes Gesicht. Anne kniff die Lippen zusammen und atmete durch die Nase. Leonard bekam solche Kulleraugen, dass er tatsächlich einem Marsianer zum Verwechseln ähnlich sah. Gerald sagte lange Zeit überhaupt nichts. Eigentlich machte er kaum den Mund auf, bis Ingstone, der vielleicht merkte, dass er das ganze Gespräch allein bestritt, in seinem bibelkundlichen Vortrag lange genug innehielt, um Gerald zu fragen, wie denn die Dinge in seiner Gemeinde stünden.
Spürte, wie sich mein Nacken spannte, als Gerald anfing, in jenem bierernsten Tonfall zu sprechen, der, wie Anne und ich nur zu gut wissen, meistens bedeutet, dass er vorhat, absoluten Blödsinn zu reden.
»Tja, nun, Barry, in unserer Gemeinde liegt einer der großen Parks von London«, sagte er, »sodass wir eine Menge mit Leuten zu tun haben, die – nun ja, Sie wissen schon.«
»Mit Leuten, die … ?«
Gerald blies die Backen auf, hielt sich eine Hand zu einer Schale geformt einige Zentimeter vors Gesicht und ballte dann die andere zur Faust, streckte den Arm aus, so weit es ging, um ihn dann wieder zurückzuziehen.
»Verstehen Sie …«
Barry machte Augen, so groß wie Tortenplatten.
»Oh – Sie meinen Leute, die …«
»Genau.«
»Ach, solche Leute meinen Sie.«
»Ja, so ist es – Leute, die im Leben keine wirkliche Erfüllung finden ohne regelmäßige Gelegenheiten, wahllos zu einem Blasinstrument zu greifen.«
»Ohne …«
»Ich weiß nicht, ob es Ihnen bewusst ist, Barry, aber Untersuchungen zeigen, dass mindestens jeder fünfundzwanzigste Mann und ein unbekannter Prozentsatz der Frauen ein irgendwie geartetes Blasinstrument besitzt. Man stelle sich das vor. Die meisten verstecken es natürlich irgendwo. So sehr haben sich die Zeiten noch nicht geändert. Es gibt immer noch eine Menge Intoleranz. Manchmal sind ganze Familien außer sich vor Staunen, wenn sie entdecken, dass der Vater, Bruder, Sohn oder Großvater, den sie doch so gut zu kennen glaubten, seit Jahren ein Waldhorn, ein Flügelhorn oder vielleicht sogar eine Tuba in seinem Schrank versteckt hält.«
»Ein Flügelhorn …«
»Und die Grünanlage in der Nähe unserer Gemeinde ist der Ort, den solche Leute aufsuchen, um andere zu finden, die dieselben – nun, dieselben Bedürfnisse und Probleme haben.«
»Tatsächlich?!«
»Oh ja. Wenn man an einem späten Sommerabend nach Einbruch der Dunkelheit dort entlanggeht, hört man es allenthalben im Unterholz und in den Büschen rascheln. Man erhascht Blicke auf undeutliche Gestalten, die von Schatten zu Schatten huschen, jeder ein irgendwie geartetes Blasinstrument in der Hand, in der Hoffnung, jemanden mit ähnlichen Neigungen zu finden, der zu einem flüchtigen Duett in einer dunklen Ecke bereit ist, ohne groß auf die Pauke zu hauen – was ja auch mit Blasinstrumenten nicht geht, nicht wahr? Das funktioniert