Ein Ereignis in Marxens Leben möchte ich hier aber noch nachtragen. Während seiner Arbeit bei der Rheinischen Zeitung lernte Marx einen gewissen Friedrich Engels (1820–1895) kennen. Engels stammte aus einer Barmer Industriellenfamilie. Später, vor allem nachdem er die Anteile seines Vaters an einer Textilfabrik in Manchester übernommen hatte, wurde er zu dem reichen Industriellen, der den notorisch in Geldnot steckenden Marx unter die Arme greifen konnte. Marx und Engels verstanden sich bei ihrer ersten Begegnung keineswegs besonders gut. Das gab sich aber mit der Zeit. Nach 1844 bildeten Marx und Engels nicht nur freundschaftlich, sondern auch politisch ein Doppelgestirn, das höchst effektiv zusammenarbeitete.
Die Schriften, die ich Ihnen vorstellen werde, entstanden alle ungefähr in der Zeit von 1843 bis 1850, darunter Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Zur Judenfrage, beide 1843, die Ökonomisch-philosophischen Manuskripte (1844), Thesen über Feuerbach bzw. die Deutsche Ideologie (1845) und gemeinsam mit Engels das Manifest der Kommunistischen Partei von 1848. Ich werde mich in dieser Vorlesung nicht mit Das Kapital (1867) beschäftigen, auch wenn ich einmal daraus zitieren werde, so wie auch aus der Kritik der politischen Ökonomie von 1858. Das Kapital ist ein Text, der nicht in eine Einführung in das Marx’sche Denken gehört. Er ist das ökonomische Hauptwerk seiner reifen Jahre.
Zurück zur Biographie, die bei Marx eine gewisse Aussagekraft entwickelt. In Paris versuchte Marx mit Arnold Ruge, die Deutsch-französischen Jahrbücher herauszugeben. Zugleich begann er sich mehr und mehr für ökonomische Fragen zu interessieren. Die Ökonomisch-philosophischen Fragmente von 1844 sind die erste Frucht dieser ökonomischen Studien. Sie werden auch unter dem Titel Pariser Manuskripte zitiert.
Marx betätigte sich weiterhin im öffentlich-politischen Kampf gegen das repressive Preußen. Dieses weitete das Gebiet seiner Repressionen aus. Preußens Arm reichte auch bis Paris. Preußen erreicht, dass Marx aus Frankreich ausgewiesen wird; er flieht nach Brüssel. 1845 gab Marx die preußische Staatsbürgerschaft auf und wurde staatenlos. Das Denken verlangte offensichtlich ein Opfer. Dieses bestand darin, dass Marx nach seiner Flucht über Paris und Brüssel, in dem er zwischenzeitlich verhaftet wurde, nach London ging, wo er ab 1849 im Exil lebte.
Im Jahr 1848 ereignete sich in Europa etwas, worauf Marx lange gewartet hatte. Im Februar und im März gab es revolutionäre Aufstände in Frankreich und in Deutschland. In Deutschland zunächst mit einigem Erfolg: Die Pressezensur wurde überall aufgehoben, die Rechte der bürgerlichen Kräfte im Verhältnis zu den herrschenden feudalistischen Regierungen wurden gestärkt. In der Frankfurter Paulskirche traf sich die sogenannte Nationalversammlung, die für einen einheitlichen deutschen Staat eine demokratische Verfassung ausarbeiten sollte. Doch bald gerieten die revolutionären Kräfte ins Stocken und reaktionäre Kräfte in Form von preußischen und österreichischen Truppen schlugen alles nieder. Der Gegenschlag ließ also nicht lange auf sich warten. Allerdings konnte nicht mehr alles rückgängig gemacht werden. Die Zeit des deutschen Feudalwesens z. B. war vorbei (was in Frankreich ein halbes Jahrhundert früher geschah, geschah nun auch in Deutschland – allerdings ohne die terreur).
In Paris war die Revolution ähnlich verlaufen. Die revolutionären Kräfte hatten zunächst einen starken Zulauf. Anders als in Deutschland gab es unter den Revolutionären auch Arbeiter. Diese organisierten im Juni in Paris einen Aufstand, der blutig niedergeschlagen wurde. Die Gegenrevolution siegte und setzte Louis Napoléon Bonaparte (Neffe des wahren Napoleon) im Dezember als Staatspräsidenten ein. Marx beschäftigte sich mit diesen Vorgängen in einem Text von 1852 mit dem Titel Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte.
Mit der Erinnerung an diese historischen Ereignisse ist ein Begriff gefallen, der auch im Denken von Marx eine zentrale Rolle spielt: der magische Begriff der »Revolution«. Er ist seit der Französischen Revolution von 1789 bis 1799, wenn nicht schon seit der Amerikanischen Revolution 1776 bis 1781, ein zentraler Begriff der politischen Theorie. Doch nicht nur dort wird er verwendet. Man spricht auch von der »Industriellen Revolution« oder von der »Digitalen Revolution«. Natürlich werde ich mich mit diesem Begriff bzw. mit Marx’ Theorie der Revolution beschäftigen. Ich habe ihn »zauberhaft« genannt, weil er wahrscheinlich derjenige Begriff unter den modernen politischen Konzepten ist, der die an Politik interessierten Gemüter am meisten erhitzt – in strikter Abwehr wie in begeistertem Zuspruch. Gerade die Russische Revolution, besonders die vom Oktober 1917, scheidet die Geister. Allerdings nimmt die Zahl der Befürworter ab. Die Gründe dafür liegen scheinbar auf der Hand: die ökonomisch-politische Entwicklung der letzten einhundert Jahre widerspricht Marx’schen und Marxistischen Prognosen. Es gebe keine verelendende Klasse, der nichts mehr bleibe als der gewalttätige Aufstand. Ich füge von mir aus noch hinzu, dass das Elend, das Unerträgliche, überhaupt eine sehr fragwürdige Voraussetzung der Revolution ist. Doch dazu später.
Es ist kein Zufall, dass Marx zur Zeit, als in Europa die Revolution Erfolge feierte, gemeinsam mit Engels seinen wohl berühmtesten Text verfasste: Im Jahre 1847 wurde in London ein Geheimbund gegründet, der sogenannte »Bund der Kommunisten«. Marx und Engels wirkten bei der Namensgebung mit. Dieser Bund, den es bis 1852 gab, ist der Vorreiter der 1864 entstandenen, von Marx und Engels mithervorgerufenen Internationalen Arbeiterassoziation, die dann später als »Erste Internationale« bezeichnet wurde. Dieser internationale Bund der Kommunisten tagte vom 29. November bis 8. Dezember 1847 in London und beauftragte Marx und Engels, ein Manifest der Kommunistischen Partei aufzusetzen. Dieses Manifest erschien 1848 in London. Damit schien sich eine Koinzidenz mit den revolutionären Ereignissen in Paris und Deutschland ereignet zu haben. Man kann sich vorstellen, dass Marx und Engels politische Morgenluft verspürten.
Marx lebte von 1849 bis zu seinem Tod 1883 in London unter schwierigen Verhältnissen, die auch daraus entstanden, dass er seinen Lebensstil durchaus an der sogenannten Bourgeoisie orientierte. Marx und Engels waren in ihrem Lebensstil keineswegs Revolutionäre (wie z. B. Che Guevara). Marx brauchte stets Geld (wenn Geld dauernd ein Thema ist, muss man es vielleicht auch thematisieren …). So arbeitete er nach wie vor als Journalist u. a. für den New York Daily Tribune, also auf internationalem Parkett. Zugleich betätigte er sich praktisch-politisch in der von mir schon erwähnten Gründung der Ersten Internationale 1864 oder in der Auseinandersetzung mit Ferdinand Lassalle, ohne den die Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands aus dem Jahre 1875, der späteren SPD, nicht möglich gewesen wäre.
Doch diese Zeit gehört schon in den Umkreis des Kapitals, mit dem ich mich nicht beschäftigen werde. Worum es mir in dieser ersten Veranstaltung ging, das war, Ihnen den sym-bio-graphischen Zusammenhang von Denken und Leben bei Marx etwas aufzuhellen. Ich wollte Ihnen Einblick in ein sehr eigentümliches Leben geben, ein Leben, das sich keineswegs nur in theoretischer Beschäftigung erging, sondern das auch Zeiten politischer Praxis enthielt; einer Praxis, die sich im verwirklichten Traum von der letzten Revolution erfüllen sollte. Marx ist aufgrund dieser Zerrissenheit zwischen der Theorie und der Praxis ein sehr moderner Charakter.
2. Vorlesung
Hegel, Feuerbach und die Religionskritik aus der Umkehrung von Prädikat und Subjekt
Ich hatte meine letzte Vorlesung mit einem Zitat aus Sperbers Marx-Biographie begonnen: »Um Marxens Ideen zu verstehen, genügt es nicht, ihren intellektuellen Inhalt zu kennen; man muss sie im größeren Zusammenhang seines Lebens sehen.« Ich hatte dann diesen Satz etwas anders ausgelegt. Es gibt keine biographische Determination des Denkens eines Philosophen bzw. überhaupt des Denkens, sondern es gibt eine wechselseitige Beeinflussung von Biographie und Denken. Das Philosophieren (aber auch die künstlerische Arbeit, meine ich) geschieht sym-bio-graphisch, in einer Art Symbiose von Denken und Leben. Ich hatte das am Leben von Marx gezeigt. Ich hatte gezeigt, dass seine politische Verfolgung sich aus seinem Denken ergab und dass sein Denken eine Antwort auf die politische Verfolgung war.
Ich hatte auch beschrieben, wie und wann Marx zu dem Denker wurde, der er für uns ist. Das geschah in Berlin durch sein Studium der Philosophie Hegels und im Kontakt mit denen, die um das Erbe dieser Philosophie stritten,