Der Langstock hing über Fedors Schulter. Für ihn hatte der Junge keine Hand frei. Außerdem kannte er in diesem gefühlte Millionen Mal gelaufenen Gebiet fast jeden Grashalm persönlich. Nur ein einziges Mal war Fedor hingefallen. Ein kleiner Maulwurf, fast ebenso blind wie er, hatte seinen Hügel ausgerechnet auf Fedors Schleichweg gebuddelt.
»Wenn du Anton immer haust, dann wirst du irgendwann wirklich in den Wald geschickt«, erklärte Fedor und drückte Nataschas Hand etwas fester. »So wie Gretel. Dann kommst du in den Backofen, auch ohne Knusperhäuschen.«
Natascha schwieg lange bedächtig. »Wirklich in den heißen Backofen?«
»Aber sicher. Dann wirst du braun gebrutzelt wie ein Brot.«
»Wie ein Brot!«, rief Anton kichernd.
Natascha sagte erneut lange Zeit kein Wort. »Ich will aber nicht in den Backofen!«, rief sie plötzlich.
»Dann darfst du Anton eben nicht mehr schlagen.« Fedor lächelte. Das Ziel war erreicht. »Wir schleichen uns rein und erschrecken Mama«, flüsterte er.
Damit waren die Kleinen selbstverständlich einverstanden. Geschickt und leise steckte Fedor den Schlüssel in den Zylinder und öffnete sanft die Haustür. Doch kaum war sie offen, da stürmte Anton los und rief unüberhörbar: »Chruchru, Mama! Wir sind da! Natascha hat mit mir Aua gemacht!«
Udbina, RSK
21. November 1994
Todor blickte sich nochmals um.
»Bitte, bitte! Pass gut auf dich auf, mein Junge!«, rief der Großvater ihm nach, der wie fast immer ein altes, abgewetztes Fell wegen seiner vom Rheuma geplagten Knochen trug. »Hörst du, Todor? Wenn die verfluchten Soldaten kommen, egal was für welche, dann versteckst du dich gut und gib bloß keinen Ton von dir! Hast du das kapiert, Todor?«
Während er bereits in die Pedale trat und mühevoll das Gleichgewicht auf dem für den Neunjährigen viel zu großen, klapprigen Drahtesel hielt, rief Todor zurück: »Da, da, Djede! Ich bin doch fast erwachsen!«
Es herrschte Krieg im Land. Lange Zeit konnte Todor nicht begreifen, warum das so war. Ihm wurde eingeredet, dass es in der Gegend viele Serben gäbe, das Land aber von Kroaten beherrscht würde, die von NATO-Soldaten im Auftrag der Vereinten Nationen unterstützt werden.
Als Todor nach dem Unterschied zwischen Serben und Kroaten gefragt hatte, konnte ihm niemand eine zufriedenstellende Antwort geben. Also sah er sich Niko und Kristina näher an, Geschwisterkinder, die mit ihm gemeinsam die Schule besuchten. Niko war knapp vierzehn und Kristina erst acht Jahre alt. Todor musste feststellen, dass sie weder anders aussahen noch dass sie sich anders verhielten als er. Und doch wurde Nikos Familie neuerdings von Todors Großvater fast abwertend als »elende faschistische Kroaten« bezeichnet.
»Das Schlimmste ist«, erklärte der Großvater, »dass Nikos Mutter zudem eine Muslime ist, die Nikos Vater eines Tages von einer Geschäftsreise mit nach Udbina schleppte.«
»Also ist Niko halb Kroate und halb Bosniake?«, fragte Todor.
Der Djede dachte einen Augenblick lang nach. Dann antwortete er: »Gewissermaßen … Ja, so ist es.«
»Bis jetzt hat aber niemand darüber gesprochen. Bis jetzt haben wir in der Schule gelernt, dass unser Land Jugoslawien heißt. Und plötzlich ist alles ganz anders. Das verstehe ich nicht.«
Der Großvater streichelte dem Jungen den Kopf. »Das ist nur, weil du noch so klein bist. Du kennst es nicht anders.«
Todor versuchte, all diese Neuigkeiten zu begreifen, was einige Stunden dauerte.
»Djede, warum sollen Niko und Kristina jetzt plötzlich anders sein als wir?«, fragte Todor am Abend, als er in seinem Bett lag und der Großvater wie immer ein kleines Gebet für den Jungen sprach.
»Es ist ihr Glauben, Todor, der sie anders macht«, sagte der Djede.
Damit schien er tatsächlich recht zu haben, denn Niko und Kristina besuchten eine andere Kirche als Todor. Sie glaubten zwar wie er an den lieben Gott, doch sprachen sie in einer katholischen Kirche mit ihm. Todor stellte allerdings fest, dass der alte Lehrer Bellic – angeblich selbst ein Serbe – den armen Niko in letzter Zeit nicht mehr so behandelte wie die anderen Schüler. Oftmals schrie er ihn wegen Lappalien an und bezeichnete ihn zudem als einen »hirnlosen Hosenwichser«, was Bellics Lieblingsschimpfwort war.
»Ist ein Jugoslawe ein Moslem, so ist er automatisch ein Bosniake«, erklärte der Großvater überzeugend. »Denn alle Katholiken sind Kroaten, sie glauben an den Papst und gehen in die römisch-katholische Kirche. Echte Serben aber folgen der orthodoxen Kirche, genau genommen der griechisch-orthodoxen Kirche. Ich und auch du – wir wurden nach der Taufe mit Myron und nicht mit Chrisam gesalbt, also sind wir Serben.«
Todor hatte lange überlegt. »Aber Djede, ob es nun Myron oder Chrisam war …« Dann fragte er: »Sie sind doch aber alle Jugoslawen, oder?«
»Mein Todor.« Djede streichelte seine Stirn. »Jugoslawien gibt es nicht mehr.«
»Ach, so ist das …« Der Junge machte sich zunächst Gedanken darüber, was wohl geschehen würde, wenn der Priester nach der Taufe einen serbischen Jungen versehentlich mit Chrisam einreiben würde. Wäre der Junge dann wegen einer Verwechslung plötzlich ein Kroate? Todor gähnte bei diesem Gedanken herzhaft und war schließlich eingeschlafen.
Schon rollte der Junge den Abhang hinunter, er musste den Lenker kräftig festhalten, denn überall auf dem unbefestigten Weg gab es Löcher und Höcker. Rechts am Lenker hing das Netz mit dem Wurst- und Brotpäckchen, gehalten von einer in der kalten Luft blau angelaufenen Hand.
Bereits seit über sechzig Stunden waren Todors Eltern nicht zu ihrem Kind und zu ihrem Hof in das Dorf Udbina zurückgekehrt. Sie arbeiteten als Zivilangestellte auf dem Flughafen in der Gespanschaft Lika-Senj, die vor allem von Serben und Kroaten bevölkert wurde und seit ein paar Jahren zur Republik Serbische Krajina gehörte. Hin und wieder, ganz besonders in den Nachtstunden, starteten die Flieger der Serben vom Flugplatz Udbina, um all den verhassten NATO-Faschisten den Garaus zu machen, wie sich Djede gern auszudrücken pflegte.
Allmählich ließ die Kraft in den Beinen des abgemagerten Jungen nach. Der Novemberwind blies ihm derb entgegen und eine lange Strecke hieß es bergaufwärts fahren. Todor biss die Zähne zusammen. Er fürchtete sich nicht vor Kriegern und Fliegern, sondern davor, dass wieder einmal ein Reifen platzen könnte. Die Fahrradschläuche waren schon etliche Male repariert worden und neue gab es nicht. Nicht während des Krieges. Im Grunde genommen gab es fast gar nichts. Mama verzweifelte regelrecht, denn Todor wuchs viel zu schnell aus seinen Sachen heraus. Und nirgends gab es etwas zum Anziehen für den Jungen!
»Darf ich etwa nicht mehr wachsen, nur weil Krieg ist?«, hatte Todor gefragt. Die Mutter hatte ihn an sich gedrückt und als Antwort bitterlich geweint.
Nun erreichte er die höchste Erhebung auf dem Weg zum Flugplatz. Todor sprang vom Rad und schaute hinunter zum Flughafen. Es schien alles ruhig zu sein, ein paar Autos standen am Tor, ein paar Fahrzeuge im Schutz der technischen Gebäude, einige weitere, meist kleine Agrarmaschinen, warteten auf dem Platz hinter dem flachen Hauptgebäude.
Mit etwas Anlauf kam das Fahrrad wieder ins Rollen, Todor schwang sich auf den durchgewetzten Sattel und fuhr mit steigender Geschwindigkeit hinab. Unten schwenkte er in großem Bogen auf einen Betonweg ein, der am westlichen Zaun des Flughafens entlangführte. In einhundertfünfzig Metern Entfernung sah der Junge die Werkstatt, in der Mutter und Vater beschäftigt waren. Ein Lächeln glitt über sein schmales, kindliches Gesicht – er hatte es fast geschafft! Kräftig trat Todor in die Pedale. Nur noch einhundert Meter bis zu dem kleinen, rostigen Tor, von dem die rote Farbe seit Langem abgeblättert und an dem das Schild mit der Aufschrift »PRESTANITIE!« längst verwittert war.
Der Junge zuckte zusammen. Rasch kam ein lautes Brummen näher! Weniger als