Kanada – Ontario. Stephan Brünjes. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Stephan Brünjes
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783948097295
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warmen Backsteinwänden – das alles geht im Distillery District.

      Distillery District

      Gut möglich, dass hier gleich der Fabrikbesitzer in Frack und Zylinder um die Ecke biegt, wo seine Droschke mit angespannten Pferden samt Kutscher auf ihn wartet. Solche Kopfkino-Szenen entstehen schon nach den ersten Minuten in Torontos Distillery District – inmitten sattwarmer viktorianischer Rotklinkerbauten, verwitterter Rumfässer und leise im Wind quietschender Kran-Dinos. Das weitläufige Gelände mit 47 Produktions- und Lagergebäuden war um 1900 die größte Schnapsfabrik der Welt: Acht Millionen Liter Sprit flossen hier in den besten Jahren aus den Tanks – vor allem in Richtung USA und Südamerika. Doch der Erste Weltkrieg und vor allem die US-Prohibition der 1920er-Jahre waren dann die Anfänge vom Ende. Nach mehreren Fusionen, Produktionsauslagerungen und Umstrukturierungen wurde die „Dis“, wie die Torontonians sagen, 1990 geschlossen. Seit 2003 beherbergt sie Galerien, Cafés und kleine Stöberläden. Blackbird Vintage etwa ist eine Fundgrube für „Alte-Zeiten-Schwärmer“ und Flohmarktfans: Opas Schreibmaschine steht da, Seifen und Düfte von früher sind im nachgebauten Lilians Beautyshop drapiert. Bei Soma gibt es erlesene Schokoladenspezialitäten aus eigener Manufaktur, raffiniert gemixt mit Chili-Pfeffer, Orangenschale und Vanille oder Trüffel veredelt mit Olivenöl. Pfiffige Filztaschen von Ladymosquito oder coole Ringe und Ketten von Filip Vanas findet man bei Corktown Design. Für große Marken und die in jedem Shoppingcenter ansässigen Ladenketten hingegen gilt im Distillery District dasselbe wie für Hunde beim Schlachter: „Wir müssen leider draußen bleiben“.

      Stöberladen in Distillery District

      Auf diese Weise entdecken Distillery-Bummler tatsächlich in vielen der kleinen Läden etwas Neues und machen nicht auf deren Schwelle schon kehrt mit dem Satz „Ach, kenne ich, hab ich ja letzte Woche schon in der City-Filiale gesehen“. Im Unterschied zur hektischen Betriebsamkeit in Downtown Toronto schaltet man hier zurück in den Schlendermodus, lässt sich über ehemalige Fabrikstraßen wie die Trinity Street treiben und findet eigentlich immer einen Platz in der Sonne auf dem Trinity Square, von wo es nur ein paar Schritte ins nächste Café sind – das Balzac etwa mit schwarz-weißen Kacheln und Riesen-Lüster unter der Decke. Oder das deutlich rauere Furbo mit unverputzten Wänden und cooler Bestuhlung. Musiker spielen auf kleinen Bierkisten-Bühnen, insbesondere Ende August, wenn abends ab 18 Uhr die Music City Summer Series-Konzerte steigen, mit Swing, Jazz, Country und Blues, gespielt von hoffnungsvollen Nachwuchskünstlern. Kaum haben die Gitarristen ihre Verstärker abgebaut, sind meist Kunsthandwerker und Winzer mit ihren Ständen da, ebenso wie der regelmäßige Sunday Market jeden Sonntag ab 12 Uhr mit lokalen Händlern aus Toronto und Umgebung. Von kurz vor Weihnachten bis Ende Januar wird im Distillery District der schönste Weihnachtsmarkt der Stadt aufgebaut: The Toronto Christmas Market.

      Hingucker: Rostiger Pick-up-Laster

      So viel Leben in der alten Schnapsfabrik – undenkbar noch vor 25 Jahren. Denn da hatte die Gooderham & Worts Distillery gerade nach gut 150 Jahren dicht gemacht, und das heruntergekommene Gelände taugte nur noch als Drehort für Filme – in „Chicago“ etwa ist eine hier aufgenommene Straßenszene mit Oldtimern zu sehen. Insgesamt etwa 1700 Kino- und TV-Produktionen entstanden hier. Doch nach einem Jahrzehnt hatte eine Gruppe von zehn Investoren und Stadtentwicklern einen kühnen Plan: Sie wollten aus der „Dis“ eine historische Mini-Stadt machen – aber nicht als Open-Air-Museum, sondern mit der Coolness und dem Lebensgefühl, das wieder hergerichtete Stadtteile wie der Meatpacking District oder SoHo in Manhattan versprühen. Das ist gelungen. Wer sich die Geschichte der Distillery erzählen lassen oder gar tiefer in sie eintauchen will, bekommt Angebote, angefangen von sorgsam restaurierten Artefakten aus dem Fabrikalltag wie historische Feuerlöscheinrichtungen, dem rostrot leuch-tenden Pick-up-Transporter oder Vorrichtungen zum Schnapsabfüllen. Die self guided tour führt näher ran und gibt mehr Infos als die an den Häusern prangenden Plaketten. Segway-Touren mit Themenschwerpunkten wie Prohibition oder Whiskyherstellung runden das Angebot ab.

      Und nach solchen Touren soll der Distillery-Besucher nicht nach Hause fahren, sondern noch in eines der wirklich schönen Restaurants einkehren. Etwa in den Pub der Mikro-Brauerei Mill Street, wo man zur „Beer School“ gehen kann. Im Pure Spirits Oyster Pub, einem mehrfach preisgekrönten Fischrestaurant, isst man seine Austern auf historischem Terrain. Denn genau in diesen Räumen versteckten die Distillery-Gründer Gooderham und Worts zu Zeiten der US-Prohibition reichlich Whisky, den sie an US-Gangster verkauften, die ihn dann über den Lake Ontario in die USA schmuggelten.

       Info

      Lage: Der Distillery District liegt östlich von Torontos City und wird eingerahmt von Cherry Street, Mill Street und Parliament Street.

      Anfahrt: Von der Union Station (Hauptbahnhof) aus mit dem Bus Nr. 121 zur Haltestelle Mill Street/Cherry Street fahren.

      Öffnungszeiten: Montag bis Mittwoch 10 bis 19 Uhr, Donnerstag bis Samstag 10 bis 20 Uhr, Sonntag, 11 bis 18 Uhr

      Eintritt: kostenlos

      •Einen Plan für die unentgeltliche self guided tour gibt es unter distilleryheritage.com/selfguidedtour/En/Heritage_tour.pdf

      •Segway-Touren mit verschiedenen Themenschwerpunkten von 21 bis 79 CAD unter gotourscanada.com

      •Die „Beer School“ in der Mill Street Brewery kostet 25 CAD, millstreetbrewery.com

      Webseite: thedistillerydistrict.com

       Kaum eine Millionen-Metropole hat seine Urlaubsinseln so direkt vor der Haustür. Mit der Fähre statt dem Flieger geht es rüber, nach nicht mal zehn Minuten beginnen lange Ferien oder das Kurzpicknick– am Strand, auf Radwegen oder beim Frisbee-Golf.

      Das Inselparadies wurde geschaffen von einem heftigen Sturm: Am 13. April 1858 zieht er auf, als John Quinn gerade mitten in den Vorbereitungen für eine Party steckt. Feiern will er, nach vorangegangenen Stürmen, die Renovierung seines Hotels auf Torontos Peninsula. Halbinsel – so nannten Torontonians das Stück Land, das vorn an der Waterfront gelegen nur durch einem schmalen Sandstreifen mit dem Stadtgebiet verbunden war. Der nun aufziehende, nächste Orkan wütet damals so heftig, dass Hotelier Quinn seine Vorbereitungen abbricht und zunächst die Angestellten auf kürzestem Weg per Boot in die sichere Stadt bringt. Auf die Peninsula zurückgekehrt, kann er seine Frau und die siebenjährige Tochter gerade noch retten, als sie sich im steigenden Wasser an Holzbalken klammern. Wenig später reißt die enge Landverbindung für immer. Wo sie war, können kurze Zeit später bereits Schiffe zwischen Festland und den abgetrennten Toronto Islands durchfahren.

      Toronto Islands

      Gerade mal zehn Minuten braucht die Fähre auf diesem Törn heute vom Bay Street-Anleger zu den Inseln Ward's Island, Algonquin Island und Centre Island. Als Mini-Archipel zusammenhängend liegen sie in Form einer umgedrehten Pistole im Lake Ontario. Schon auf diesem Kurztransfer wird deutlich, warum sich die Überfahrt lohnt: Torontos glitzernde Skyline erscheint in fotogener Panoramabreite vor Smartphone-Kameras und dauerklickenden Spiegelreflex-Objektiven. Auf einer der Inseln angekommen, wartet Bullerbü statt busy city: Bunt gestrichene, zumeist hölzerne Cottages ducken sich hinter hohen Bäumen auf zugewachsenen Grundstücken. 262 solcher Häuser gibt es, bewohnt von etwa 600 Insulanern. Manuel Cappel