Gut und Böse werden im Märchen bis heute strikt getrennt. Helles Haar, goldene Kleidung, Rüstung oder Accessoire stehen für das Gute, eine dunkle, exzentrische Erscheinung für das Böse. Einzige Ausnahmen sind die hell gekleidete und oftmals hellhaarige Kindesentführerin Schneekönigin, und Schneewittchen und ihr rabenschwarzes Haar, obwohl „so schwarz wie Ebenholz“ im Originaltext einst auf die Augenfarbe der Ausnahmeprinzessin hinwies, die Adalbert Ludwig Grimm, ungeliebter Namensvetter der Brüder Grimm, Snäfrid/Shnevit nannte. Einige Urübersetzungen der Version der Gebrüder Grimm, welche auf der Geschichte der Grafentochter Margarete von Waldeck basierten, die ihrer mörderischen leiblichen Mutter ein Dorn im Auge war, bezeichneten Schneewittchen allerdings als „Snow Drop“.
Auch ist den Wenigsten bewusst, dass die heutigen Teufel und Engel, die Hexen und Erscheinungen eine christianisierte Version der Urmärchen sind, angepasst an die Zeit der Romantik. Drachen wurden damals zu Teufeln, Feenwesen transformierten zu ihren schwanengeflügelten Kusinen, den Engeln, das Alte Weib mutierte zur grausigen Hexe und ein Geistwesen wurde kurzerhand zu einer Erscheinung. In der Buchversion von Grimm's Fairy Tales im britischen Calla Verlag sehen wir noch die Illustrationen des bereits verstorbenen Künstlers Arthur Rackham, der noch Hutzelmännchen und Kobolde anstelle von Zwergen zeichnete, und uns den Drachen mit den drei goldenen Haaren, dessen Kopf im Schoß der entführten Jungfrau ruht, anstelle des Teufels mit den drei goldenen Haaren zeigt. Seine Zeichnungen sind inspiriert von den Urmärchen der Gebrüder Grimm. Diese christlicheren Versionen unserer Lieblingsverbrecher trugen allerdings in neueren Zeiten besser zum Verständnis des einfachen Volkes bei und waren auch ein offensichtlicherer Ohrenschmaus für die Amüsiergesellschaft, die sich Märchen über das lasterhafte einfache Volk zur Erheiterung vorlas.
Von den frühesten Ursprüngen des belehrenden Märchens über die japanischen Sagen mit all ihren Drachen, Hutzelweibern, wispernden Geistwesen und verwunschenen Prinzessinnen zu den romantischen, christlicheren Versionen im 19. Jahrhundert bis hin in die Moderne, veränderte das Märchen stetig sein Gesicht: aus dem mündlich überlieferten und anonymen Volksmärchen wurde das Kunstmärchen, dessen Autoren wie Hans Christian Andersen noch heute bekannt sind. Seine Nachricht an uns veränderte sich jedoch nie: sei tugendhaft!
Dem Bösen wird immer seine gerechte Strafe zuteil, und manchmal sogar, um hundertprozentig sicher zu gehen, der Tod. Dies ist auch heute noch in amerikanischen Thrillern und Kriminalromanen eine beliebte, endgültige Lösung für den Bösewicht. Denn stirbt dieser am Ende, löst sich die Gefahr, dass er vor Gericht freigesprochen wird, in beruhigendes Wohlgefallen auf. Die britischen Whodunnit hingegen nehmen ihre Killer gerne auch einfach fest. Doch eines ist meist unmissverständlich: Verbrechen lohnt nicht.
Auch was den geschlechtlichen Aspekt der Rollenverteilungen in den Märchen anbelangt, hat sich viel verändert. So wurde beispielsweise die weise Großmutter, reich an Lebenserfahrung und Einsicht, sehr stark in den Hintergrund gedrängt und war daher keine große Hilfestellung für das modernisierte leichtsinnige Rotkäppchen. Zwar gab es in der Literatur seit vorbabylonischer Zeit das Motiv der femme fatale, der dämonischen Verführerin in Gestalt der Eva, Delila, Helena, Pandora oder Circe, um nur einige zu nennen, aber in unserem Verständnis, geprägt z. B. durch die Bond-Filme, kennt das Urmärchen solcherlei Damen nur als eitle und böse Stiefmutter, die der Protagonistin, dem armen Opfer, das Leben schwer macht. Nur die alte Hexe lockte und war weit davon entfernt, auch körperlich zu verführen. Sie bestach eher mit Versprechungen und täuschenden Halbwahrheiten.
Dafür hat sich das männliche Prinzip im Wolf aka dem gefährlichen Verführer und im Ritter / Prinzen aka dem Helden / Kommissar hartnäckig gehalten. Ob in abstrakten Zeichnungen, Disneyfilmen, modernen Fotoshootings oder Gothic- und Horrorversionen, die Frau transformierte mit der Zeit immer mehr vom Opfer, das auf Rettung wartet, zur heldenhaften Kriminologin:
Schneewittchen kämpft in Neuverfilmungen eigenhändig gegen die Drahtzieherin des Mordes (Böse Königin). Rotkäppchen kämpft in neuen Versionen taff gegen den (Wer)Wolf im bösen Manne. Die zahlreichen Cinderella-Heldinnen nehmen ihr Schicksal – und ihr Happy End mit dem Prinzen – selbst in die Hand und besiegen die Intrigantinnen (Stiefmutter und Stiefschwestern) auf ganzer Linie. Hänsel & Gretel schlagen kräftig und nach bester Selbstjustiz-Manier gegen die Böse Hexe zurück, und erneut befreit die Schöne ihr Biest in zahlreichen Fernsehserien und neuen Verfilmungen scharfsinnig wie eine Detektivin von seinem Fluch.
Der nach Gerechtigkeit strebende Jägersmann wird in modernen Nacherzählungen immer häufiger von einer taffen, aber auch empfindsamen Jägerin ersetzt – eine durchaus spannende Neuinterpretation mit sehr modernem Hintergrund.
Jedoch dürfen wir nicht die vergessen, ohne die auch das spannendste Märchen langweilig wäre: die skrupellosen Schurken. Fabelhaft und nach wie vor modern ist unsere Lieblingsschurkin, die narzisstische und skrupellose Auftraggeberin für einen hinterhältigen Mord, die Böse Königin / Königin der Herzen / Böse Stiefmutter. Im Musical Into the Woods und der dazugehörigen Verfilmung begegnen wir vielen Märchenschurken, meist Grimm-basiert, auf einmal. Intriganten, Mörder, Lügner und Betrüger ziehen die Strippen, und wir lieben sie dafür.
Ob nun klassisch und verträumt aus Tschechien, imposant aus Frankreich oder modern und mit Power aus Hollywood, das Schauerliche, Humorvolle und Grausame hat sich aus dem Lehrreichen von einst gelöst, und zeigt uns immer öfter die wahren Gesichter der kriminellen Tales, die einer Vorabendserie würdig wären. Vom rechten Weg abkommen ist also unbedingt erwünscht.
Heute suchen wir in den archetypischen Situationen nach etwas Artverwandtem in den Krimimärchen. Wir suchen nach dem Bruder der Kriminologie: der Psychologie.
Was genau ruft diese Missetaten denn eigentlich hervor?
Der Ground Zero, Schneewittchen, bietet gleich eine ganze Menge solcher Symbole: den Tod der leiblichen Mutter (Vater/Tochter-Beziehung), eine neue Frau an Vaters Seite und das auch noch ziemlich hurtig (Stiefmutterkomplex), der magische Spiegel der Stiefmutter (Narzissmus), die mit dem Heranwachsen des Kindes ihr eigenes Altern deutlich aufgezeigt bekommt (Angst vor dem Verlust der Jugend), die sogenannte „Schönheit“ der Stieftochter, die allein durch deren Jugend und Frische hervorsticht, in einem Schloss, in dem sie lediglich von verhältnismäßig schmuddeligen Mägden umgeben ist (Neid), bis hin zum Extrem: dem Mordauftrag, der endgültigen Problembeseitigung. Die Nachricht hier ist eindeutig: Du darfst nicht schöner sein als ich (Störung des Selbstwertgefühles). Denn das ist in der Tat überlebenswichtig für die nicht mehr ganz junge, zweite (!) Ehefrau am fremden Hofe, die außer ihrer verblühenden Schönheit nichts mehr hat. Fühlen wir nicht zumindest ein bisschen mit ihr? Und was denken sich überhaupt die ledigen Zwerge beim Anblick des bewusst-/und wehrlosen Schneewittchens? Irgendeinen Grund muss es ja geben für den gläsernen Sarg.
In Rotkäppchen geht es um die klare Warnung vor gewalttätigen Männern und dem sturen Gehorsam: komme nicht vom rechten Weg ab, will heißen, nähere dich nicht dem Wolf / dem fremden Manne / dem Verführer! Im 1695 geschriebenen Urmärchen von Charles Perrault geht tatsächlich die Urangst vor dem damals erst aufgeflammten Werwolf-Mythos voraus, auch durch die Legende der Bestie von Gévaudan im Languedoc, einem Wolfswesen, das im Jahre 1764 etwa 100 Frauen und Mädchen riss.
Handelt es sich bei Schneeweißchen & Rosenrot um Schneewittchen und Rotkäppchen? Die Parallelen liegen tatsächlich in verschiedenen Versionen von dem weder verwandt noch verschwägerten Adalbert Ludwig Grimm, den Gebrüdern Grimm und Bechstein. Daher auch einst die Abwandlung von Schneeweißchen in Schneewittchen. Schizophrenie wäre hier wohl ein wunderbares Motiv, um die körperliche Gewalt und den versuchten Totschlag des Freiers in Bärengestalt zumindest ansatzweise zu rechtfertigen.
Wäre Carlo Collodis Pinocchio auch in unserer heutigen Zeit immer noch gern ein echter Junge? Oder würde der scharfe Blick eines Profilers den notorischen Lügner, der noch immer bei seinem