Heinrich (H) hat von Erwin (E) einen lukrativen Auftrag erhalten: Er soll in der Wohnung des E eine neue Küche einbauen. Voller Elan schreitet H zur Tat. Beim Sägen einer Holzplatte vergisst er dann allerdings, die Tür zur Küche zu schließen, und auch, die Absaugvorrichtung für die Holzspäne anzuschalten. Als E in die Küche kommt, um dem H etwas zu trinken zu bringen, trifft den E ein Holzspan direkt ins Auge. E verlangt deshalb von H Schadensersatz wegen der Arztkosten.
Zu Recht? (Lösung Seite 57)
•Ersatz des Verletzungsschadens
Erstattungsfähigkeit von Verletzungsschäden
Ein Verletzungsschaden ist der Schaden, der sich unmittelbar aus der verletzten Rücksichtnahmepflicht ergibt. Es handelt sich hierbei also um einen Schadensersatz neben der Leistung, da dieser Schaden unabhängig von der eventuell mangelfrei erbrachten Hauptleistung eingetreten ist.
Beispiel: Der Mechaniker, der das Auto des Kunden reparieren soll, setzt sich mit seinem ölverschmierten Blaumann auf die weißen Ledersitze des Wagens. Die Reinigungskosten sind dann ein Verletzungsschaden.
Die Voraussetzungen für den Ersatz von Verletzungsschäden regelt allein § 280 Abs. 1 BGB (die §§ 281 bis 283 BGB sind nicht zusätzlich zu prüfen, da es sich beim Verletzungsschaden nicht um einen Schadensersatz statt, sondern neben der Leistung handelt). Zu den Voraussetzungen dieser zentralen Anspruchsgrundlage bei vertraglichen Pflichtverletzungen siehe Seite 47.
Vorvertragliche Schutzpflichtverletzungen
Problematisch bei der Verletzung von Rücksichtnahmepflichten ist jedoch häufig, dass zum Zeitpunkt der Pflichtverletzung des Schuldners noch gar kein Vertrag abgeschlossen wurde. Dann liegt ein Schuldverhältnis als erster Voraussetzung von § 280 Abs. 1 BGB an sich nicht vor.
Beispiel: A betritt einen Supermarkt in der Absicht, dort einzukaufen. Beim Durchlaufen der Gänge fällt ihm von einer hochgestapelten Palette eine Konservendose auf den Kopf, die vom Inhaber des Supermarktes nicht ordnungsgemäß abgesichert worden ist.
In diesen Fällen darf es letztlich keinen Unterschied machen, ob die Pflichtverletzung schon vor Vertragsschluss (an der Kasse) oder erst danach erfolgte. Folglich ordnet § 311 Abs. 2 BGB an, dass ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 BGB auch schon durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, die Anbahnung eines Vertrages oder durch ähnliche geschäftliche Kontakte entsteht. Demnach wird das Tatbestandsmerkmal „Schuldverhältnis“ aus § 280 Abs. 1 BGB durch eine solche vorvertragliche Sonderverbindung ersetzt. Im Ergebnis ist der Schuldner dem Gläubiger dann vertragsrechtlich zum Ersatz des Verletzungsschadens verpflichtet, wenn auch die weiteren Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB erfüllt sind.
Beachte: Mindestvoraussetzung für eine Vorverlagerung der vertraglichen Haftung sind nach § 311 Abs. 2 Nr. 3 BGB „geschäftliche“ Kontakte. Betritt also z. B. ein Obdachloser einen Supermarkt, um sich aufzuwärmen (und nicht um einzukaufen), fehlt es an einem geschäftlichen Kontakt. Dann scheidet eine Haftung des Inhabers des Supermarktes nach § 280 Abs. 1 BGB aus.
• Rücktritt vom Vertrag
Vertragsrücktritt bei Unzumutbarkeit
Neben dem Ersatz des Verletzungsschadens stellt sich dem Gläubiger evtl. die Frage, ob er infolge einer Rücksichtnahmepflichtverletzung des Schuldners vom Vertrag zurücktreten kann. Die Voraussetzungen hierfür regelt § 324 BGB. Demnach ist ein Rücktritt nur möglich, wenn dem Gläubiger ein Festhalten am Vertrag nicht mehr zuzumuten ist. Bei der Prüfung der „Unzumutbarkeit“ sind alle Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen, insbesondere die Schwere und Häufigkeit der Rücksichtnahmepflichtverletzung. Vor dem Hintergrund des Prinzips „pacta sunt servanda“ dürfen an die Unzumutbarkeit jedenfalls nicht zu geringe Anforderungen gestellt werden. Oftmals wird deshalb vor dem Rücktritt eine Abmahnung durch den Gläubiger erforderlich sein (vgl. § 314 Abs. 2 BGB).
Beispiel: Frau F beauftragt einen Handwerker damit, ihre Wohnung zu renovieren. Verstößt der Handwerker gegen ein von F ausgesprochenes Rauchverbot in ihrer Wohnung, kann sie nicht gleich vom Vertrag zurücktreten. Anders verhält es sich aber bei einer gravierenden Rücksichtnahmepflichtverletzung des Handwerkers, etwa einer sexuellen Belästigung der F.
Soweit der Gläubiger vom Vertrag mit dem Schuldner nach § 324 BGB zurücktreten kann, führt dies zur Rückabwicklung bereits ausgetauschter Leistungen nach §§ 346 ff. BGB.
•Schadensersatz statt der Leistung
Voraussetzungen für Schadensersatz statt der Leistung
Auch bei einer Rücksichtnahmepflichtverletzung durch den Schuldner kann dem Gläubiger ein Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung zustehen. Dieser ergibt sich auch in diesem Fall aus § 280 Abs. 1, 3 BGB. Als Zusatznorm ist hier § 282 BGB einschlägig, der von einer Pflichtverletzung des Schuldners nach § 241 Abs. 2 BGB ausgeht. Für den Schadensersatz statt der Leistung bedarf es damit auch hier der Unzumutbarkeit der Vertragsfortführung für den Gläubiger. Insofern sind die Voraussetzungen die gleichen wie für den Rücktritt. Im Unterschied zum Rücktritt bedarf es beim Schadensersatz statt der Leistung aber eines Verschuldens des Schuldners, wie sich aus dem Rückverweis in § 282 BGB auf die Voraussetzungen des § 280 Abs. 1 BGB ergibt.
Merke: Schadensersatz ist grundsätzlich verschuldensabhängig, der Rücktritt nicht.
Lösung zur Handlungssituation (Fallbeispiel 7)
Zu prüfen ist der Anspruch des E gegen H auf Zahlung von Schadensersatz aus § 280 Abs. 1 BGB.
Voraussetzung für eine Haftung aus § 280 Abs. 1 BGB ist zunächst eine schuldhafte Pflichtverletzung des H aus einem Schuldverhältnis. Das Schuldverhältnis zwischen E und H ist hier ein Werkvertrag (§ 631 BGB). Eine Hauptleistungspflicht hat H nicht verletzt. Denn dass die Arbeit des H mangelhaft oder verspätet ist, wird von E nicht behauptet. H hat allerdings die allgemeinen Schutzpflichten nach § 241 Abs. 2 BGB verletzt. Danach muss der Schuldner auf Eigentum und Gesundheit des Vertragspartners Rücksicht nehmen. Dies hat H hier nicht getan, weil er vor dem Sägen der Holzplatte die Küchentür nicht geschlossen und seine Absaugvorrichtung nicht eingeschaltet hat. Das Unterlassen des H ist schuldhaft i. S. d. § 276 BGB, nämlich zumindest fahrlässig. Die angefallenen Arztkosten stellen schließlich einen ersatzfähigen Verletzungsschaden des E dar.
Ergebnis: E kann von H Schadensersatz (neben der Leistung) verlangen.
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