„Aber einundneunzig! Das hört sich ja nach Friedhofsgemüse an!“
„Sven, also bitte! Du wirst dich wundern, wie fit er noch ist!“
„Geht er in die Kirche?“, fragte Anna.
Unsere Mutter zuckte mit den Schultern. „Er ist zwar evangelisch-lutherisch, aber mit der Kirche hat er nicht viel am Hut. Zu Hause gab es immer Streit wegen Glaubensfragen.“
„Er kann sich ja mal unseren Gottesdienst ansehen“, meinte meine kleine Schwester.
Dazu muss man wissen, dass wir keine Lutheraner sind, sondern zu einer Freikirche gehören, zu den Baptisten. Das ist derselbe Klub, zu dem auch Martin Luther King und der Präsident Jimmy Carter gehörten und übrigens auch Mahalia Jackson, diese dicke Gospelsängerin. Aber die kennt heutzutage kaum noch jemand.
Bei uns Baptisten geht es etwas familiärer zu. Es gibt keine feste Ordnung im Gottesdienst, und die Leute werden getauft, wenn sie es wollen, also eher ab zwölf, dreizehn und mehr. Wir haben keine Kirchensteuer und müssen unseren Pastor selber bezahlen. Aber wir sind auch evangelisch und glauben im Prinzip an dieselben Sachen wie die Lutheraner, nur nicht so förmlich, und im Gottesdienst singt auch der Pastor kein Solo auf drei Tönen.
Für mich waren die Baptisten zu der Zeit die einzige Kirche, die ich wirklich kannte, und ich war der Meinung, dass ich ein unwahrscheinliches Glück hatte, ausgerechnet zu der richtigen Kirche zu gehören. Obwohl ich selber noch nicht getauft war.
Jedenfalls, Großvater wurde immer interessanter für mich: Biber, Lufthansa, lutherisch, Raucher, Revolver, Leserbriefschreiber und Autofahrer.
2
Wenige Wochen später war es dann so weit. Ein Sprinter rauschte an, mit einigen Sachen von Opa. Sein Bekannter hatte sich angeboten, ein paar Möbel für ihn zu transportieren. Opa kam erst am nächsten Tag in seinem eigenen Wagen, einem alten VW Passat Combi und drei Koffern und noch ein paar anderen Kleinigkeiten.
„Wir haben seine Wohnung noch nicht ganz aufgelöst, falls er es sich überlegt und wieder zurückziehen will“, meinte meine Mutter.
„Oder falls wir es uns überlegen“, sagte Sven.
„Dann muss er wieder zurück zu den Bibern“, sagte ich.
„Zu den was?“
„Na ja“, meinte ich, „Biberach ist doch die Stadt, wo es so viele Biber geben soll.“
Sven tippte sich an die Stirn.
In dem Sprinter waren zwei Stühle, sein Schreibtisch, ein kleines Tischchen und ein gewaltiger Ohrensessel aus dunklem Holz, mit rotem Samt ausgeschlagen.
„Sieht aus wie ein Thron“, meinte Sven.
„Den Schreibtisch braucht er, um seine Leserbriefe zu tippen und seine Seltsamkeiten zu sortieren“, sagte meine Mutter.
Wir sahen uns den Schreibtisch an und bekamen große Augen. Er war massiv und schwarz lackiert.
Der Fahrer grinste: „Das Teil ist geleimt und muss als Ganzes runter. Besorgt euch schon mal ein paar Leute. Ich hab mir mit einem Freund zusammen fast den Rücken kaputtgehoben.“
Zum Glück war noch unser Nachbar da, der ein Gestell mit Rädern hatte.
Zu viert bugsierten sie den Schreibtisch auf ein dickes Brett und schoben ihn, in Decken gehüllt, vom Wagen auf das Fahrgestell. Das ging noch.
Aber man musste ihn ein paar Stufen zur Einliegerwohnung hochtragen.
„Jedenfalls“, meinte Sven mit hochrotem Gesicht: „Der Schreibtisch ist ein Argument, dass Opa bleibt.“
Den roten Thron dagegen konnten zwei Männer bequem tragen.
Es war Frühling, als Opa am nächsten Tag kam, und meine Mutter hatte ihm auf seinen Schreibtisch eine Vase mit den ersten Tulpen gestellt.
Er sah sich die Vase an, deutete mit seinem Stock darauf und sagte nur: „Was soll denn das Gemüse hier?“
„Ein Willkommensgruß, Papa!“
Neben der Vase lag ein bunter Zettel, auf dem „Grüß Gott“ stand.
„Ich kann mit Blumen nichts anfangen, außer mit der Tabakpflanze.“
„In unserer Wohnung wird nicht geraucht“, sagte sie. „In deinem Reich kannst du natürlich machen, was du willst und weiter deine Gesundheit ruinieren.“
„Danke für deine frommen Wünsche, Annika.“
Da wir in der Nähe von Tübingen wohnten, sprachen wir ein leichtes Schwäbisch. Meine Mutter sowieso, ich auch. Nur mein Bruder dachte, er sei etwas Besonderes, weil er Theologie studierte. Deshalb bemühte er sich, auch zu Hause Hochdeutsch zu sprechen. Mein Großvater hatte für das Schwäbische noch nie etwas übrig gehabt, dabei war seine Frau eine Schwäbin gewesen, und er hatte sein halbes Leben in Biberach verbracht. Er stammte aus der Nähe von Leipzig, aber das Sächsische hatte er auch nie für voll genommen.
Obwohl ich noch nicht erwachsen war, merkte ich bei diesem kurzen Schlagabtausch zwischen meiner Mutter und ihm, dass es nicht langweilig werden würde.
Mit seinem Stock dirigierte er die Möbel an die richtigen Plätze.
„Willst du vielleicht ein Bild an die Wand?“, fragte meine Mutter.
„Was für ein Bild?“
„Irgendein Bild, das dir gefällt. Ihr habt doch zu Hause auch Bilder an den Wänden gehabt.“
„Die hat deine Mutter ausgesucht. Ich überleg mir‘s noch“, sagte er und ließ sich mit Ächzen auf seinem roten Thron nieder. „Ganz schön anstrengend, so ein Umzug“, sagte er.
„Besonders für die Leute, die deine Sachen schleppen“, sagte Sven und grinste.
„Sei nicht so frech!“, polterte Opa los.
Für eine Sekunde war es still, dann sagte meine Mutter: „Ach, Papa, das hat doch Sven nicht so gemeint. Soll ich dir helfen, deine Koffer auszupacken?“
„Nee, nee, lass man. Das mach ich lieber selber.“
„Na gut“, sagte meine Mutter, „um halb eins gibt es Mittagessen. Wenn du dreimal klingelst, wissen wir, dass es jemand aus der Familie ist. Ich habe zur Feier des Tages Salzkartoffeln, Gemüse und Hackbraten gemacht.“
„Na wenigstens nicht diese ewigen Spätzle“, sagte er.
Daraufhin schwieg meine Mutter, und wir ließen ihn allein.
Bisher hatte mich mein Großvater nicht richtig bemerkt. Ein kurzer Gruß am Anfang, das war alles. Nachher, beim Essen, wurde das dann anders.
Es klingelte dreimal. Opa marschierte mit seinem Stock in die Essküche und setzte sich ohne zu fragen auf meinen Platz. Etwas mürrisch setzte ich mich neben ihn. Bevor wir mit dem Essen anfingen, gab es eine gewisse Unsicherheit, bis meine Mutter sagte: „Wir beten vor dem Essen immer.“
„Ja, das habe ich schon befürchtet“, kommentierte mein Großvater, „fromm wie deine Mutter.“
„Du bist doch lutherisch getauft“, hielt meine Mutter dagegen, „und Martin Luther hat sicher auch vor dem Essen gebetet.“
„Ist ja gut, Annika.“
„Schweine beten vor dem Essen auch nicht“, sagte Sven, dem es Spaß machte, unseren neuen Gast zu ärgern. Vielleicht wollte er ihn damit auch nur loswerden.
Großvater schoss unter seinen buschigen Augenbrauen einen Blitz in Svens Richtung und sagte mit scharfer Stimme: „Hör mal gut zu, mein Junge, ich habe einen Weltkrieg überlebt und muss mir von einem pickeligen Studenten nicht ans Bein pinkeln lassen. Ist das klar?“
„Also