Und obwohl solche Populismen eine Versuchung für kirchliches Auftreten in unserer Zeit enthalten könnten, wären die Kirchen sicherlich gut beraten, sich solcher Vereinfachungen nicht zu bedienen. Solche Vorsicht walten zu lassen, gilt auch angesichts des kirchlichen Hinweises, dass Verlautbarungen immer in ihrem Kontext, etwa einer Predigt, verstanden werden müssen. Und natürlich ist einzuräumen, dass hier auch Missbrauch möglich ist, ob versehentlich oder mit Absicht. Immer wieder besteht die Gefahr, dass Einzelnes aus dem Zusammenhang gerissen und dann in seinem Gehalt verzerrt oder gar verfälscht wird. Unabhängig davon ist aber auch die angesprochene Ausgabe von Direktiven kritisch wahrzunehmen.
Ökumene ist selbst gewissermaßen ein Instrument zur Komplexitätsreduzierung. Wenn das Miteinander der Kirchen etwa auf den Begriff der Freundschaft unter Ausblendung der jeweiligen Profile reduziert wird, dann ist damit alles beiseite gewischt, was die großen Konfessionskirchen inhaltlich auszeichnet. Wenn jemand auf die Idee käme, beispielsweise von der katholischen zur evangelischen Konfession wechseln zu wollen und dem Ratsvorsitzenden der EKD die Frage stellte, was ein solcher Wechsel denn bedeuten würde, müsste der mit seiner Vorstellung der Ökumene als Freundschaft eigentlich konsequent antworten: Nichts.
Dann aber stellt sich in der Tat die Frage, was Konfessionalität eigentlich noch soll. Die Konfession zu wechseln würde jedenfalls keinen Sinn machen. Auch wären die Gründe für den Konfessionsunterschied, über welche jahrhundertelang gerungen wurde und über die sich nicht gerade die Dümmsten beider Konfessionen die Köpfe zerbrochen haben, wie weggeblasen. Hinter beiden Großkonfessionen stehen viele Hundert Jahre Geistesgeschichte, die zu würdigen der Respekt vor dem dort Geleisteten geradezu gebietet.
Die Kirchen im Bedeutungsschwund
Was die Verkündung von richtungsweisenden Direktiven aus kirchenpolitischer Perspektive anbetrifft, wird man den konfessionellen Großkirchen wahrscheinlich sogar bescheinigen können, was sie eigentlich wirklich das Fürchten lehren sollte; nämlich dass sie durch ungeschicktes Agieren in diesen Zusammenhängen ihre eigene Marginalisierung vorantreiben. Diese wird auch dadurch befördert, dass es solche Direktiven verhindern, wesentliche Aspekte zur Geltung zu bringen, die die Konfessionsunterschiede anschaulich werden lassen könnten.
Zu Beginn des Festjahres zum Reformationsjubiläum wurde der Ratsvorsitzende der EKD in den Tagesthemen zu Luther und zur Reformation befragt. Nicht an einer Stelle wurde deutlich, was mit der Reformation Neues entstanden ist. Stattdessen kam etwa auf die Frage, welche Thesen Luther heute veröffentlichen würde, die Antwort, dass er wohl die Liebe ins Zentrum stellen würde. Es war die Rede von Empathie, von Flüchtlingen und wie viele ehrenamtliche Protestanten sich hier engagiert hätten. Das alles ist im höchsten Maße löblich, hat aber mit einem spezifisch evangelischen Profil nichts zu tun. Zu Recht lautet die Frage: Wenn sich die Frage nach einem protestantischen Profil damals und heute in solchen Allgemeinplätzen erschöpft, wozu brauchen wir den Protestantismus dann überhaupt noch? Was ist der spezifische Beitrag dieser Konfession innerhalb der religiösen Landschaft in unserem Land und in unserem Kulturkreis?
Die Kirchen leiden in unseren Tagen unter dem Schwund ihrer Bedeutung. Die Menschen wollen weder ein Votum von selbsternannten gesellschaftlichen Wächtern noch ein wie auch immer näher zu verstehendes transzendentes Engagement, sondern sie wollen, dass die großen Konfessionskirchen soziale Verantwortung übernehmen. Die Kirchen sollen nicht am Transzendenten haften, sondern sie sollen im Sozialen Flagge zeigen: der erwähnte Kindergartenplatz, der Platz im Seniorenheim, das scheint wichtig; sich in der Nachbarschaftshilfe einbringen, die Jugend von der Straße holen, für Seniorinnen und Senioren Ausflüge organisieren. Angelegenheiten des Transzendenten, Fragen nach Sinn und anderes mehr sind heute – wie kaum jemals zuvor – in die Zuständigkeit der oder des Einzelnen gestellt. Glaube ist Privatsache, eine Angelegenheit der Privat-, wenn nicht gar der Intimsphäre. Wir werden darauf noch näher zu sprechen kommen.
Auch was die Marginalisierung betrifft, befinden sich die Kirchen in einem Dilemma. Für nicht wenige Menschen ist letztlich nicht recht einzusehen, warum es die Konfessionskirchen immer noch gibt. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass diese es offensichtlich nicht vermögen, ihre Wesensunterschiede so zur Darstellung zu bringen, dass das jeweilige Eigenrecht der Konfessionen ihren Kritikerinnen und Kritikern einleuchtet. So werden – wie bereits angesprochen – immer wieder Forderungen nach so etwas wie einer Fusion laut, was immer man sich darunter dann konkret vorzustellen haben mag. Dadurch könne nicht nur Geld gespart werden, sondern es ließen sich auch eine Reihe von Synergieeffekten erzielen, die die komplexe Angebotsstruktur der Kirche für die Gesellschaft vereinfachen würde und damit den Dienst der Kirche an der Gesellschaft befördern könnte. Wir kamen darauf zu sprechen, wie unsinnig solche Mutmaßungen sind, und wir werden dafür im Folgenden weiteren Gründen begegnen.
Christentum und Religion außerhalb der Kirchen
Gegenüber der beschriebenen Marginalisierung der Kirchen als Institutionen kann allerdings festgehalten werden, dass es bezüglich der Inhalte, um welche es in den Konfessionskirchen geht, genau gegenläufig bestellt ist. Sinn ist „in“. Der Sinnmarkt boomt. Religion ist keineswegs ein ewiggestriger Ladenhüter. Im Gegenteil, Religion gehört – und zwar in zunehmendem Maße – zu den attraktiven Themen eines über sich selbst aufgeklärten Lebens; eines Lebens, das auch nach seinen Tiefen und nach seinen Geheimnissen fragt.
Das Problem scheint zu sein, dass die Menschen den großen Konfessionskirchen das Thema Religion in vielen Fällen nicht mehr zutrauen. Dabei muss man aber auch eine konfessionelle Differenz in den Blick nehmen. Das abnehmende Zutrauen in die Religionsfähigkeit der Kirche dürfte auf protestantischer Seite nämlich noch stärker ausgeprägt sein als auf katholischer. Dem Protestantismus ist mit dem Verständnis von Kirche, wie es Martin Luther ausgebildet hat, gewissermaßen bereits ein Grundmisstrauen gegenüber der Institution, gegenüber der eigenen Kirche eingeschrieben. Wir werden auch darauf zurückkommen.
Dass die Kirche selbst Sachwalter der Religion, mithin des Heiligen ist, bringt die katholische Kirche in eine Position, die dazu führt, dass die Gläubigen ihre eigene Kirche gewissermaßen wie selbstverständlich für religionskompetent halten. Die Kirche ist sozusagen selbst das Heil. Oder anders gesagt, nur über die Kirche und durch die Kirche ist Heil gegenwärtig. Auch das jeweilige Verständnis dessen, was Kirche ist, wird uns noch eingehender beschäftigen. Auf dieses Misstrauen der Gläubigen gegenüber der Religionsfähigkeit ihrer Kirche reagieren die Kirchen – im Sinne des gerade Entfalteten vor allem die evangelischen Kirchenleitungen – mit einer Verkirchlichung der Religion. Auch das wird uns noch weiter beschäftigen.
Religion ist dann zunächst und vor allem Religion in ihrer kirchlichen Gestalt. Das zeigt sich bei der Aufwertung der Gottesdienste und der Kasualien. Letzteren kommt etwa mit der Frage nach der Zulassung zum Patenamt und der Ausstellung eines Patenscheines nachgerade Rechtsqualität zu. So ist zum Patenamt zugelassen, wer einer Konfessionskirche zugehört. Das ist Vereinsdenken, das die Frage, ob jemand Religion hat, mithin religiös ist, außen vor lässt und diese Fragen auf blutleere und trockene Vereinsstatuten reduziert. Beim Protestantismus scheint dies durch Impulse der katholischen Schwesterkirche noch verstärkt zu werden, was sich bei allen Formen hierarchischen Denkens in der Kirchenleitung, aber auch in der gemeindlichen Praxis zeigt.
Der Bedeutungsschwund und manches mehr führt wohl auch dazu, dass die Kirchen ihr eigenes Profil gegenwärtig eher wie das sprichwörtliche Licht unter dem Scheffel stellen. Auch dies wird man vor allem für den Protestantismus sagen müssen. Wenn nicht alles täuscht, dann hat daran auch und vor allem die gegenwärtige ökumenische Diskussion wesentlichen Anteil. Wie in der modernen Soziologie formuliert: Werden Singularitäten (in diesem Fall die Konfessionskirchen) miteinander verglichen, kann das nur unter Ausblendung ihrer sie auszeichnenden Wesensmerkmale geschehen. Denn die Eigenkomplexitäten der Singularitäten machen regelrechte Vergleichstechnologien erforderlich. Und diese reduzieren Komplexitäten. „Notre-Dame in Paris und der Dogenpalast in Venedig sind dann zwei Exemplare des gotischen Baustiles, das Christentum