Mara hörte ein Taxi, das eine nahegelegene Straße entlangfuhr. Sie hörte eine Frau, die schrill und künstlich lachte. Direkt vor Maras Füßen pickte gurrend eine Taube an den Resten einer Gurkenscheibe, wie man sie gerne mal aus dem Hamburger pult. Immer wieder schlug der Schnabel auf die Pflastersteine.
Pok pok. Pok pok. Pokpokpok.
Professor Weissinger schien währenddessen immer noch damit beschäftigt zu sein, eine Antwort zu finden. Allerdings nicht unbedingt eine Antwort auf Maras Frage, sondern wohl eher eine Antwort darauf, wie ein vierzehnjähriges Mädchen ausgerechnet auf die Idee kommt, so eine Frage zu stellen! Oder überhaupt irgendwer.
Maras Gedanken rasten. Sie hatte doch nichts Falsches gesagt, oder? Ihn vielleicht beleidigt, ohne es zu bemerken? Aber sie hatte doch nur gefragt, ob …
In diesem Moment hörte Mara jemanden sprechen: »Ach ja, und wer ist die traurige Frau, die neben ihm steht, und was will sie mit der Holzschale?«, und fast gleichzeitig stellte sie fest, dass sie das wohl gerade selbst gesagt hatte.
Stimmt, dachte sie, das wollte ich ja auch noch fragen. Na ja, hab ich jetzt wohl.
Professor Weissinger sah Mara jetzt mit einem Blick an, der sie eindeutig an ein Sofakissen erinnerte. Ohne dass sie jetzt hätte sagen können, was genau ihr an diesem Vergleich so passend erschien, fand Mara, dass es für den Ausdruck im Gesicht des Professors tatsächlich keine bessere Beschreibung gab.
Als hätte er selbst gemerkt, dass es sich für einen Universitätsprofessor nicht geziemte, mit dem Gesichtsausdruck eines Sofakissens auf ein junges Mädchen zu starren, fand der Professor schließlich seine Stimme wieder und befahl dieser, sich gefälligst zurück in seinen Hals zu scheren! Mit einem metallischen Räuspern, das klang, als hätte er ein Loch im Auspuff, rasteten seine Stimmbänder ein und nahmen ihre Arbeit wieder auf.
»Was hältst du davon, wenn wir das doch in meinem Büro besprechen, junge Dame? Es ist gleich da oben im zweiten Stock.«
Kapitel 6
Hinter dem Professor betrat Mara durch die große Glastür zwischen den Säulen die Universität. Instinktiv duckte sie sich vor der zu erwartenden Düsternis! Gleich würden sie auch unzählige längst verstorbene Professoren aus düsteren Bildern mit strengem Blick anstarren, als würden sie fragen: »Was machst du denn hier, kleines Mädchen? Weißt du denn nicht, dass diese Universität nur für Studenten ist und für bärtige Professoren in Cordhosen, die Papierstapel durch die Gänge tragen und dabei laufend lose Blätter verlieren?«
Umso überraschter war sie über das helle grellweiße Licht, das die große Halle erfüllte, in der sie nun stand. Als sie nach oben sah, musste sie sogar die Augen zusammenkneifen. Das Licht fiel gleißend hell durch eine Art gläserne Kuppel hoch über ihren Köpfen und wurde noch verstärkt vom weißen Stuck an der hohen Decke.
Dem Professor schien erst jetzt bewusst zu werden, dass Mara dieses Gebäude wohl zum ersten Mal betrat. Er kam die paar Schritte zurück, die er die große Freitreppe bereits hinaufgestiegen war.
»Ja, das ist der sogenannte Lichthof, der seinen Namen ganz offensichtlich zu Recht trägt. Dort hinten ist der Aufgang zu unserem Auditorium maximum, dem größten Hörsaal in der Uni. Aber wir gehen jetzt hier hinauf in den zweiten Stock und dann rüber in den anderen Trakt.«
»Ich dachte, Ihr Büro ist gleich hier oben?«, fragte Mara.
»Das ist es auch«, antwortete der Professor. »Zumindest im Vergleich zu so manch anderem Büro hier. Die Universität München ist riesengroß. Sie erstreckt sich über mehrere Straßen und dies hier ist nur eines von über zwanzig Gebäuden. Allein in diesem Teil der Universität gibt es den Adalbertstrakt, den Dekanatstrakt, den Senatstrakt, den Amalientrakt und den Bibliothekstrakt. Wir gehen jetzt in das sogenannte Gartengebäude. Und bevor du dir nun einen Schreibtisch in einer Gartenlaube vorstellst, solltest du wissen, dass dieses Gebäude wiederum über drei Geschosse plus drei Zwischengeschosse und drei Innenhöfe verfügt.«
Mara malte sich kurz aus, wie sie auf der tagelangen Suche nach Professor Weissinger irgendwo in den endlosen Hallen und Gängen elend verdurstet wäre. Doch sie erlaubte sich, diese Vision aus ihrem Geist zu vertreiben.
Visionen. Na wunderbar, ich hab wieder dieses Wort benutzt, dachte Mara, als sie dem Professor durch die vielen Gänge, Doppeltüren und Treppenhäuser folgte. Visionen war eins von Mamas Lieblingswörtern. Dauernd hatte irgendeine von ihren Wicca-Frauen irgendwelche Visionen – meistens davon, dass irgendeine Stimme ihnen einflüsterte, dass sie doch »endlich mal an sich selbst denken« sollten oder »sich auch mal was gönnen« dürften. Praktische Sache, so eine Vision, wenn sie immer genau das aussprach, was man gerade am liebsten hören wollte. Auch Mama hatte schon oft Visionen gehabt: zum Beispiel davon, dass Papa zurückkommen würde, weil er eingesehen hatte, dass sie immer schon recht gehabt hatte und es ein großer Fehler gewesen war, sie zu verlassen.
Vor allem im ersten Jahr nach der Trennung hatte sie Mara sehr oft davon erzählt.
Als Mara noch jünger gewesen war, hatte sie sogar daran geglaubt und gehofft, dass Mama diesmal die Wahrheit vorausgesehen hatte.
Doch dann verging das Jahr, schließlich zwei, drei … und Papa war immer noch nicht wieder da. Und das, obwohl Mama inzwischen schon unzählige weitere Visionen, Zeichen und Orakeldeutungen angeführt hatte, die letztlich alle das Gleiche aussagten: Papa kommt zurück. Ganz sicher. Diesmal wirklich. Demnächst. Bald.
Mittlerweile wusste Mara nur eines ganz sicher: Wenn sie selbst irgendwann mal eine Tochter hätte, dann würde sie ihr nur Dinge versprechen, die sie auch halten konnte.
Was ihre Mutter wohl denken würde, wenn Mara ihr erzählte, dass sie sich neuerdings mit Pflanzen unterhielt und Visionen hatte? Na ja, eigentlich hatte sie die ja immer schon gehabt. Nur haben wollen hatte sie die Visionen eben nicht.
Und jetzt das.
Spákona.
Was sollte sie dem Professor eigentlich erzählen? Alles? Nein, auf keinen Fall. Wer glaubte schon einem vierzehnjähriges Mädchen? Und dann auch noch so etwas Unglaubliches. Andererseits war sie doch genau deswegen hergekommen, oder?
Nein, sie würde den Professor jetzt einfach ausfragen über alles, was sie wissen musste, und dabei möglichst wenig über sich erzählen. Oder gar nichts. Und auch nichts über Mama. Genau, das war ein toller Plan!
Zufrieden nickte Mara und stellte im selben Moment fest, dass sie damit wohl gerade irgendetwas bejaht haben musste, denn der Professor sagte: »Na, dann hol ich dir mal einen, bin gleich wieder da!«
Mara blieb allein zurück, vor irgendeiner Tür in irgendeinem Gang in irgendeinem Stockwerk in irgendeinem Gebäude.
Doch gerade als sie spürte, wie ihre Fingernägel sich anschickten in den Handballen bleibende Spuren zu hinterlassen, hörte sie vertraute Geräusche: klimpernde Geldstücke in einer Hosentasche, klickendes Einwerfen von Münzen und ein Tastendruck. Danach ein Summen und ein leises »Sch-Blunk«, gefolgt von einem Geräusch, das klang, als würde jemand in einen Plastikbecher pinkeln.
Professor Weissinger kam mit einer heißen Schokolade auf Mara zu.
»Ich frage mich manchmal, warum diese Kästen immer Kaffeeautomat heißen, obwohl sie alle möglichen Arten von Heißgetränken ausspucken«, sagte er und grinste, als er ihr den Becher reichte.
»Vielleicht weil Schokolade-Kaffee-Tee-und-Rinderbrühe-Automat zu lang ist?«, antwortete Mara und meinte es gar nicht so witzig, wie es offensichtlich beim Professor ankam.
»Hahaha, ja, das kann sein. Und