Ich geh stiften. Jörg Wolfram. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jörg Wolfram
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Книги о Путешествиях
Год издания: 0
isbn: 9783960088202
Скачать книгу
Luft, in einen traumlosen Schlaf.

      Tagesbedarf: EUR 40, Gesamtverbrauch: EUR 70,

      Gesamtstrecke: 122 km

       Freud und Leid

       Dienstag, 05. Juli 2016

       5. Wanderetappe, Hanerau-Hademarschen – Kellinghusen, 37 km

      Mein Biorhythmus pendelt sich langsam ein, heute stehe ich um 04:30 Uhr mit gepacktem Rucksack vor dem Gasthof und ziehe an der Kirche des Ortes vorbei in Richtung Ortsausgang. Noch habe ich den Begleitbrief der Kirchgemeinde Leipzig-Holzhausen nicht in Anspruch nehmen müssen oder vielleicht dürfen, um im Fall des Falles „Kirchenasyl“ für eine Nacht zu bekommen. Zunächst geht es über weitläufige Feldwege mit kraftvollen Schritten gut voran, die Sonne geht heute in einem bemerkenswerten Schauspiel blutrot im Osten auf. Ich halte inne. Wann hat ein Großstadtmensch wie ich schon Gelegenheit, einen Sonnenaufgang zu beobachten. Und dann noch im Sommer um diese Uhrzeit. Einem solchen Naturereignis wohnen doch meistens nur junge Leute bei, wenn sie frühmorgens von der Diskothek nach Hause kommen. Oder es sind diejenigen Berufstätigen, welche als Krankenschwester, Feuerwehrmann oder Zugbegleiter zum Frühdienst aufbrechen. Munteres Vogelgezwitscher begleitet mich. Es sind die einzigen Geräusche um diese Zeit. Plötzlich entdecke ich auf dem Feldweg vor mir zwei Hasen, welche wie versteinert sich gegenübersitzen. Ich versuche mich möglichst langsam und leise zu nähern, aber ganz flink stellen sie sich auf die Hinterpfoten und nehmen Witterung auf. Ich verharre, die beiden gehen aber auf Nummer sicher und verduften Haken schlagend im Feld.

      Kurze Zeit später geht es dann erstmals auf meiner Reise durch ein längeres Waldstück, hauptsächlich aus Eichen und Buchen bestehend, aber auch Birken und Ahorn erkenne ich. Und ich genieße die frische, feuchte Morgenluft. Die Sonne gewinnt langsam an Intensität, ein herrliches Gefühl aus körperlicher Anstrengung, Wärme und frischer Luft durchzieht mich. Es folgt eine Frühstückspause mit Brötchen, Salami, Kakao und einem Apfel. Kein Mensch ist mir in den ersten vier Stunden des Tages begegnet. Überhaupt führt mich mein Navigationsgerät heute wieder über schönste Wander- und. Radwege. Dies führt allerdings dazu, dass mir jedwede Ortschaft an diesem Wandertag vorenthalten bleibt. Ich hatte daher ausreichende Verpflegung und Flüssigkeiten eingepackt, getreu dem Motto „Besser man hat, als man hätte“.

      Etwa bei Kilometer 28, es ist gegen 12:00 Uhr, und ich bin schon seit mehr als sieben Stunden unterwegs, zieht jemand den Stecker aus meiner Energiebox. Ich erleide innerhalb weniger Minuten ein körperliches, aber auch geistiges Tief. Gestützt auf meine Wanderstöcke schleppe ich mich nur noch mühsam voran. Ich gestehe mir ein, eine längere Pause einlegen zu müssen. Einen so schnellen und tiefgreifenden Energieverlust habe ich noch nie erlebt, selbst zu meinen besten Sportlerzeiten nicht. Gut, die liegen lange zurück und damals war ich gut austrainiert, aber dies jetzt zu erleben ist schon krass. Da ich von Natur aus ein sehr rationaler Mensch bin, gelingt es mir immerhin, mich mit der Situation zu befassen und so mache ich mit mir selbst einen Punkt am Ende des langen vor mir liegenden Feldweges aus und beschließe, dort so lange zu pausieren, wie es vonnöten sein wird. Wie auf meinen bisherigen Wegen sind Bänke auch hier nicht nur Mangelware, sondern schlichtweg nicht vorhanden. Ich lege mich kurzerhand auf einen Streifen Sand, bette meinen Kopf auf den Rucksack und schnaufe kräftig vor mich hin. Jetzt einfach schlafen und das Laufen für heute einstellen, so ist es mir gerade zumute. Dass dieser Moment so oder so ähnlich kommen würde, war mir eigentlich klar, oft genug habe ich ihn als ehemaliger Leistungssportler erlebt. Dann aber so schnell damit konfrontiert zu werden, ist eine andere Sache. Aber ich weiß auch, dass es nach jedem Tief wieder ein Hoch gibt. Zwei Fragen sind für mich jetzt relevant. Erstens, wie komme ich aus dem aktuellen Tief heraus und zweitens, was war die Ursache für meinen jetzigen Erschöpfungszustand? Also erst mal richtig runterfahren, Zeit lassen, trinken. Anschließend esse ich einen Apfel und führe mir den Rest einer Schokoladentafel zu. Ich schließe die Augen, bleibe länger als eine halbe Stunde so liegen. Langsam kriechen die Lebensgeister in Form von Energie in meinen Körper zurück. Ich richte mich auf und laufe einige Minuten später wieder los. Ganz bewusst setze ich einen Schritt vor den anderen, laufe langsam und finde allmählich wieder zu meinem Rhythmus. Die Beine laufen wieder und auch mein Kopf ist jetzt in der Lage, Antworten auf die beiden offenen Fragen zu finden. Zum einen wird mir klar, dass mein gestriges Abendessen zwar ausgesprochen gesund, aber absolut unzureichend nahrhaft war. Mir haben einfach ausreichende Kalorien gefehlt, eine ganz wesentliche Erkenntnis auch für die nächsten Tage und Wochen. Zum anderen muss ich mich unbedingt in meinen eigenen zeitlichen Vorstellungen korrigieren. Disziplin ist zwar für das Erreichen der Zugspitze eine Grundvoraussetzung, aber ich muss mir selber etwas mehr Freiraum zugestehen. Also nehme ich mir vor, mich künftig an der Distanz und am Tageslauf, aber nicht primär an der Uhr zu orientieren. Ob mir dies gelingt, bleibt abzuwarten, aber schließlich habe ich den ganzen Tag Zeit, um von A nach B zu kommen und dort auch noch ein Bett zu finden. Gleichwohl habe ich mich bisher mental leichter getan, wenn ich schon am Morgen weiß, wo ich abends schlafen werde, als noch auf die Suche nach einer Unterkunft zu gehen. Und wenn ich schon beim Analysieren bin, dann kann ich mir auch noch klarmachen, jeden Schritt bewusst zu tun und mein Tempo frühzeitig meiner jeweiligen Verfassung anzupassen. All das sind Fakten, bei denen jetzt jeder (und auch ich) sagen wird: Na ist doch klar, schon hundert Mal gehört, mach ich schon. Aber Theorie und Praxis sind bekanntermaßen zwei Paar Schuhe und ich bin gespannt, wie lange diese Erkenntnisse anhalten werden.

      Auf jeden Fall komme ich wieder in Tritt, passiere ein ehemaliges Bundeswehrgebiet und begegne am frühen Nachmittag plötzlich zwei Damen, welche Schwestern sind und nach dem Mittagessen den Hund Gassi führen. Da wir alle nach Kellinghusen wollen, haben wir dasselbe Ziel. So laufen wir gemeinsam, kommen ins Reden und ich spüre sofort, dass es mir gut tut, nach einigen Tagen der Einsamkeit sich mal wieder auszutauschen. Und es läuft sich auch wieder ganz anders. Die letzten vier Kilometer vergehen quasi im Fluge, was auch am drohenden Gewitter liegen kann. Die jüngere der beiden Schwestern, Susan, fragt mich, ob sie mich mit dem Auto, welches am Ortseingang geparkt ist, mitnehmen kann und wo ich denn schlafen würde. Auf meine Nachfrage nach günstigen Herbergen empfiehlt sie mir eine Radlerherberge und bietet an, mich hinzufahren. Und so komme ich noch vor dem Gewitter mit Starkregen zu einer Übernachtung. Es ist noch ein großes Zimmer frei, Kosten: 23 Euro ohne Frühstück. Eigentlich will ich ja maximal 20 Euro ausgeben, habe aber heute keine Lust, deswegen noch weiterzusuchen. Ich sage zu, mir wird das Zimmer unterm Dach gezeigt, wobei ich aus meinem Bett heraus einen direkten Blick auf ein Storchennest mit insgesamt fünf Bewohnern habe. Ich will gerade meine Sachen auspacken, da bemerke ich, dass ich mein iPad im Auto von Susan habe liegen lassen. Kein Name, keine Telefonnummer, lediglich aus dem Gespräch der Schwestern habe ich erfahren, dass sie in der Gartenstraße wohnt. Ich gehe im Telefonbuch alle Einträge von A-Z durch, keine Gartenstraße. Doch weil heute mein Glückstag ist und Susan meine Retterin des Tages, steht sie nach 15 Minuten vor der Pension und hat meinen digitalen Wanderbegleiter in der Hand. Ich sage ihr, dass ich sie am liebsten umarmen würde, lasse dies mit meinem durchgeschwitzten Shirt und meinem kräftigen Geruch aber lieber sein. Wir lachen herzlich, machen ein gemeinsames Foto, ich bedanke mich herzlich und schon ist sie wieder verschwunden. Da stellt sich natürlich die Frage, wozu ich bei einer solchen Wanderung ein mobiles Endgerät benötige. Aber hier habe ich alle Wanderkarten, Navigationsmöglichkeiten, Foto- und Videofunktionen, soziale Medien, Musik und auch mein Tagebuch in einem Gerät vereint. Bei Verlust wäre ich echt aufgeschmissen.

      Also Aufatmen, duschen, Körperpflege und etwas ausruhen. Anschließend schleppe ich mich bei Sonne kurzärmlig zu einem Supermarkt und natürlich muss es zehn Minuten später zu regnen anfangen. Wie viel von dem nassen Zeug gibt es denn eigentlich noch da oben?

      Da ich in meinem Wohnbereich einen Herd gesehen und mir kalorienreiche Kost vorgenommen habe, kaufe ich neben zwei alkoholfreien Bieren und der Wanderverpflegung für den kommenden Tag auch eine Büchse Ravioli. Zu Hause käme ich im Leben nicht auf den Gedanken, mir so etwas in den Einkaufswagen zu legen, aber hier muss es auch mal rustikal zugehen. Zurück im Zimmer stelle ich fest, dass weder ein Büchsenöffner vorhanden noch der Herd angeschlossen ist. Ich bitte also meine Wirtin, mir in ihrer Küche das Essen erwärmen zu dürfen. Dies lehnt sie dahingehend ab, indem sie sich selbst der Sache annimmt und mich in dem wunderschön restaurierten Frühstücksraum