Schon während der großen Westeuropa-Reise der Jahre 1763 bis 1765, stärker ausgeprägt freilich dann später in den Jahren der Italienreisen 1771-1773 und in denen der „Orientierung“ 1777 – 178144, hier besonders in der Mannheimer und Pariser Zeit, tritt Mozarts musikalische Welterkundung, das forcierte Lernen und Arbeiten, das Sich-Vertraut machen mit den verschiedenen zeitgemäßen Stilrichtungen der Musik in den europäischen Zentren in den Vordergrund und gewinnt als das heimliche pädagogische Konzept Leopolds und als Hauptzweck der Reisen immer mehr an Bedeutung. Die Erinnerungen an die ersten Auftritte des Wunderkinds in der Fremde verblassen mehr und mehr. Bald bricht die Zeit der professionellen Bewährung des außerordentlichen Talents an. Der junge Komponist wird zunehmend selbstbewusster. Er weiß sich zum „Kapellmeister“ geboren, und er thematisiert in seinem Brief vom 11. September 1778 aus Paris an seinen Vater sein Selbstbewusstsein als ein „Mensch von superieuren Talent“, „welches ich mir selbst, ohne gottlos zu seyn, nicht absprechen kan.“45
Und in demselben Brief heißt es weiter:
„ich darf und kann mein Talent im Componiren, welches mir der gütige Gott so reichlich gegeben hat, / ich darf ohne hochmuth so sagen / denn ich fühle es nun mehr als jemals nicht so vergraben.“46
Wie der Vater beruft auch der Sohn das biblische Gleichnis vom Talentwucher und leitet daraus die religiöse Selbstverpflichtung ab, seine göttliche Berufung zum Komponisten als seine Lebensbestimmung zu verwirklichen. Das Klavier sei eigentlich nur seine „sehr starcke nebensach“, das Komponieren sei dagegen seine „einzige freüde und Paßion“.47
Die Tätigkeit des Unterrichtens, worauf Mozart noch während seiner Wiener Jahre ohne eine höfische Position angewiesen war, galt ihm eher als eine Last und ein „notwendiges Übel“.48 Den zuletzt zitierten Briefzeugnissen, die Mozarts Selbsteinschätzung seiner ungewöhnlichen Gaben demonstrieren, möchte ich wenigstens eine historisch verbürgte Äußerung über das Wunderkind Mozart zur Seite stellen, die nicht nur die andere Optik der zeitgenössischen Öffentlichkeit repräsentiert, sondern die auch deshalb besonders interessant ist, weil sie das Urteil eines eher skeptischen Aufklärers darstellt. Ein Freund Diderots, der Diplomat und Schriftsteller Baron Melchior von Grimm, übrigens ein wichtiger Mittelsmann der Mozarts in Paris, verbindet mit seinem Ausdruck der irritierten, aber grenzenlosen Bewunderung zugleich den vielleicht für die Zeit charakteristischen Versuch einer rationalen Klärung der Wirkung eines für ihn sprichwörtlich unbegreiflichen Wunders.
Grimm schreibt in seiner Kritischen Korrespondenz am 1.12.1763:
„Wahre Wunder sind so selten, daß man davon spricht, wenn man einmal eins erlebt. Ein Kapellmeister aus Salzburg mit Namen Mozart ist hier (i.e. in Paris; d.Vf.) kürzlich mit zwei Kindern von allerliebstem Anblick eingetroffen. Seine Tochter spielt hinreißend Klavier; (...) ihr Bruder, der im nächsten Februar sieben Jahr alt wird, ist ein so ungewöhnliches Wunderkind, daß man kaum glauben kann, was man mit seinen Augen sieht und mit seinen Ohren hört.“ (...)
„geradezu unglaublich ist es, ihn eine Stunde lang aus dem Kopfe spielen und sich der Eingebung seines Genies und einer Menge entzückender Einfälle überlassen zu sehen, die er zudem geschmackvoll und geordnet folgen zu lassen weiß.“ (...) „Mühelos liest er alle Noten, die man ihm vorlegt; er komponiert mit wunderbarer Leichtigkeit, ohne zum Klavier zu gehen und seine Akkorde suchen zu müssen.“ (...)
„Dieses Kind wird mich bestimmt noch närrisch machen, wenn ich es öfters höre; es zeigt mir, wie schwer es ist, sich vor Tollheit zu hüten, wenn man Wunder erlebt. Daß der heilige Paulus nach seiner seltsamen Vision den Kopf verlor, setzt mich nicht mehr in Erstaunen.“49
Überschaut man die angeführten lebensgeschichtlichen und historisch-authentischen Briefzeugnisse hinsichtlich ihrer Rede vom Wunderkind Mozart, so fällt auf, dass sie mit ihren Versuchen einer rationalen Klärung der Wirkung des Wunderbaren durchaus eine metaphysische Erklärung in Betracht ziehen. Was den phänomenalen Effekt der öffentlichen Auftritte des jungen Mozart angeht, die dadurch ausgelöste Bewunderung, ja Irritation, so hätte der zuvor schon einmal zitierte Thomas Bernhard hier vielleicht (wie in seinem Roman Der Untergeher im Hinblick auf den phänomenalen Pianisten Glenn Gould) überspitzt von einer (freilich bei Mozart nicht bloß) „klavieristischen Weltverblüffung“ gesprochen.50
Aber von einer romantischen Interpretation, die auf eine Verherrlichung und Verklärung des göttlichen Genies Mozarts und seiner apollinischen Erscheinung im Lichte Raffaels und einer durch ihn historisch vorbereiteten Kunstreligion abzielt, kann weder in den historischen Zeugnissen der Selbstdeutung noch in den zeitgenössischen Dokumenten des 18. Jahrhunderts schon die Rede sein. Auch von einer klassischen Idealisierung des begnadeten Subjekts und von einer Mythisierung des großen Komponisten Mozart sehen die gerade angeführten Dokumente (noch) ab. Das unterscheidet gerade deren Profil von den erst nach Mozarts Tod proklamierten Anschauungen, die im Wesentlichen unter der Voraussetzung romantischer Ideen und eines säkularen kunstfrommen Denkens entstanden sind und die frühe Rezeptionsphase Mozarts mit ihrer Favorisierung der Vokal- und Kirchenmusik geprägt haben. Erst dieser hauptsächlich durch Rochlitz und die Romantik begründeten Tradition einer Sakralisierung der Kunst (die maßgeblich auf Wackenroder und Tiecks Publikationen sowie publikumswirksam dann auf E.T.A. Hoffmann zurückgehen) verdanken sich die ästhetisch wie psychologisch folgenreichen Tendenzen des Mozart-Bildes, welche noch heute ihre Wirkung zeigen. Darüber hinaus wird die hauptsächlich durch E. T. A. Hoffmann richtungweisende Bestimmung und fortwährende Wirkung der romantischen Musikästhetik künftig die Mozart-Darstellungen maßgeblich beeinflussen. In Mörikes Mozarts Bild leuchtet paradigmatisch noch eine Kombination beider Traditionen auf: die einer eher klassischen und spielerischen Wiederaufnahme des mythologisch begründeten apollinischen Genies – und die des Fortlebens einer Tradition typisch romantischer Musikästhetik.
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