»Da sehen Sie es!«, rief die Frau von der Sozialkommission.
»Der Mann gehört hinter Gitter, aber sofort.«
Karl Großmann fuhr auf. »Is det nun die Dankbarkeit, die ein Mensch kann erwarten, wenn er anderen helfen tut, wenn se in der Gosse liegen! Uff der Straße hab’ ick die Suse jefunden, und halb verhungert is se jewesen. Da bin ick jekommen und hab’ se satt gemacht, det Meechen. Keina hat sich jekümmert um sie. Nie hab’ ick dran jedacht, ihr Böset zu tun, aba jewaschen hat sie werden jemusst, so wie sie bei mir oben jekommen is. Wo se hat so ville Angst vor’t Wasser, da hab’ ick se selba waschen jemusst. Eina muss det ja ma tun. Nicht Sie vom Amt – wo sind Se denn jewesen die ganze Zeit üba? Und wat hat se uff’m Leib jehabt? Lumpen hat se uff’m Leib jehabt. Da liegen se noch. Möchten Se vielleicht in solche Lumpen rumlaufen? Welcha Mensch möchte det schon. Kleida machen Leute, wissen Se doch, Se sind doch beidet jebildete Menschen. Ick kenne doch die Menschen, kommen doch alle bei mir und koofen wat. Der Direktor will ’ne Wurst, der Bettler will ’ne Wurst. Der eene hat ’n jroßes Portemonnaie, der andre holt die Jroschen aus’m Hut, aba Menschen sind se alle. Und alle Menschen ham Hunger, auch die Suse hier. Und alle Menschen müssen Kleidung ham, sonst erfrieren se. Jetzt in März is et ja noch bitterkalt draußen. Da hab’ ick die Kleider von meine verstorbene Frau aus’m Schrank jeholt und se jeschenkt der Suse hier. Und wegen die Sache werd ich nun behandelt wie ’n Verbrecher! Da möchte man ja vor Wut die Wände hochgehen. Aber so isset nu mal: Undank ist der Welt Lohn.«
Die Frau von der Sozialkommission trat jetzt an das Bett und lächelte der 15-Jährigen aufmunternd zu. »So, du stehst jetzt mal auf …«
Jetzt sah man, dass das Mädchen Kleider trug, die einer großen und ziemlich fülligen Frau gehört haben mussten. Sie schlotterten nur so um den elenden Kinderkörper und fielen weit über die Füße auf den rotbraun gestrichenen Boden. Suse starrte auf ihre hervorlugenden Zehenspitzen. »Darf ich die Sachen trotzdem behalten?«
»Ja, und du kommst jetzt mit zur Jugendfürsorge, wo man sich um dich kümmern wird.« Dann wandte sie sich an den Polizisten. »Und Sie nehmen bitte den Großmann mit.«
»Warum denn das?«
»Weil er gar nicht verheiratet war. Die Kleider, die da in der Ecke liegen, müssen also auf andere Art und Weise hergekommen sein. Wie, das überlasse ich Ihrer beruflichen Phantasie.« Der Polizist machte eine abwehrende Geste. »Ich kann doch nicht so einfach einen unbescholtenen Bürger …«
Weiter konnte Richard Jerxheimer die Szene leider nicht verfolgen, denn in diesem Augenblick kam Gustav Witzke die Treppe herunter, und nun hatten die geschäftlichen Dinge absolut Vorrang. Der dicke Witzke freute sich, dass er seinen geänderten Anzug gratis ins Haus geliefert bekam, und versprach, in seinem großen Bekanntenkreis für den Händler zu werben. Zufrieden lief Jerxheimer wieder nach Hause.
»Hallo, Papa, da bist du ja endlich!«, rief Sarah. Überraschend früh war seine Tochter heute nach Hause gekommen. Im Hotel Excelsior hatte es nicht viel zu tun gegeben, und da hatte man sie ein paar Stunden früher nach Hause geschickt. Sie setzte das Teewasser auf, und bald saßen sie plaudernd in der guten Stube. Zuerst ging es um den gescheiterten Putsch, doch dann musste Sarah noch etwas anderes loswerden: »Du, ich glaube, ich habe heute früh Fritzi Massary gesehen, bei uns am Anhalter Bahnhof.«
Wie sehr verehrte Sarah die Massary, den großen Operettenstar aus Österreich! 1904 hatte sie noch nicht im Metropol-Theater sitzen können, als Fritzi Massary mit ihrem berühmten Chanson Im Liebesfalle, da sind sie nämlich alle ein bisschen trallala Berlin eroberte. Doch seit sie die Diva zum ersten Mal auf der Bühne erlebt hatte, 1917, mitten im Krieg, in Die Rose von Stambul, war sie ein ausgemachter Fan. Noch vor kurzem hatte sie die Schauspielerin in Oscar Straus’ Der letzte Walzer und in Leo Falls Die spanische Nachtigall im Berliner Theater in der Charlottenstraße bewundert. Doch nun hatte Sarah zu ihrem Bedauern gehört, dass die Massary und ihr Mann, der Charakterschauspieler Max Pallenberg, mit Max Reinhardt nach Österreich gehen wollten.
»Auch da gibt’s keinen Kaiser mehr«, sagte Jerxheimer.
»Wenigstens ist uns der Kapp erspart geblieben.« Sarah war froh, dass es in Deutschland keinen Bürgerkrieg gegeben hatte.
»Aber sie haben so viele Offiziere ins Wasser geschmissen.« Jerxheimer kam gar nicht mehr los von diesen Bildern. »Was haben wir uns das damals gewünscht, auf dem Kasernenhof, als sie uns geschurigelt haben! Doch so was dann wirklich zu machen, ist doch etwas ganz anderes.«
»Es war ’ne Gegenrevolution.« Den Begriff hatte Sarah im Hotel gehört. »Und auch ’ne Gegenrevolution ist ’ne Revolution – und bei ’ner Revolution, da … da …« Sie kam nicht auf den richtigen Vergleich, und ihr Vater brachte den Satz zu Ende.
»… da geht’s nicht zu wie im Mädchenpensionat. Recht haste.« Jerxheimer blickte auf die Uhr. »Nu, was hältste davon, dass wir noch ’nen kleinen Abendspaziergang machen?«
»In’n Tiergarten? Das ist mir noch zu gefährlich.«
»Nein, nur hier einmal ums Karree. Mal sehen, ob wir im Engelbecken nicht noch ’n Offizier finden, den sie da reingeworfen haben.« Jerxheimer erfreute sich an seinem schwarzen Humor. »Es muss ja nicht immer der Landwehrkanal sein, wo ’ne Leiche schwimmt. Die toten Roten schwimmen im Landwehrkanal – und die toten Schwarzen im Engelbecken.«
»Vater, du bist makaber.«
»Nu …« Wieder schmunzelte Jerxheimer. »Ist das ’n Wunder, wo meine Vorfahren Makkabäer gewesen sind!«
Dann zog er sich seinen guten Mantel an und trat mit seiner Tochter auf die Straße hinaus. Ihre Lieblingsroute war die Strecke um den Luisenstädtischen Kanal, der den Landwehrkanal mit der Spree verband. Sie kamen zur Waldemarstraße, blickten rechts auf das riesige Areal des Bethanien-Krankenhauses und wandten sich nach links. Bald standen sie am Engelbecken und bedauerten, kein altes Brot für die schwirrenden Möwen und die begierig heranschwimmenden Enten mitgebracht zu haben. Kein Wunder, dass die Tiere Hunger hatten, denn heute kam kaum einer, sie zu füttern. Die Leute hatten noch immer anderes im Kopf. Jerxheimer und seine Tochter waren die einzigen Menschen weit und breit.
»Sind wir ganz allein«, stellte er fest.
Worauf Sarah – nicht ohne Ironie – den Spruch zitierte, der an der nahen Emmaus-Kirche zu lesen stand und Zuversicht vermitteln sollte: »Herr, bleibe bei uns, denn es will Abend werden.«
»Das gilt nur, wenn einer ’n Goi ist, nicht für uns.« Jerxheimer wollte gerade zu einem längeren religionswissenschaftlichen Exkurs ansetzen, da stutzte er. »Sieh mal, da kommt was angeschwommen.«
Sarah konnte nicht anders, als loszukichern. »Ja, dein toter Offizier, den sie ins Wasser geschmissen haben.«
Doch ihr sollte in den nächsten Minuten das Lachen vergehen, denn was da im Engelbecken trieb, war in der Tat ein Leichnam, wenn auch nicht der eines Offiziers, sondern der einer Frau. Und vollständig war die Leiche auch nicht, Kopf und Gliedmaßen fehlten.
Drei
»Wann geboren?«, fragte der Gutachter; er hatte die Feder schon aus dem Fass gezogen und die überflüssige Tinte abgestreift.
»Am 13. Dezember 1863«, antwortete Karl Großmann. »Aber da werden Se nich viel wissen von det Jahr, denn gegeben hat es da nicht viel. Das mit die Kriege ist ja erst gekommen, als ich schon hab’ gekonnt laufen. Und unser König ist noch nich jewesen der Kaiser. Und …«
»Ja ja, ist ja schon gut«, stoppte Prof. Dr. Strauch den Redeschwall. Er hatte schon selbst in Büchern recherchiert, und in Großmanns Geburtsjahr – 1863 – hatte die Menschheit in der Tat keine ihrer Sternstunden erleben dürfen. Nicht viel war in die Annalen eingegangen: Lasalle hatte in Leipzig den Allgemeinen deutschen Arbeiterverein gegründet, den Vorläufer der SPD. Großbritannien, Frankreich und Spanien hatten den österreichischen Erzherzog Maximilian zum Kaiser von Mexiko gemacht.