Dantes Wurzeln
Wir können Dante Alighieri aber nicht verstehen, ohne uns nicht auch seinen Vorbildern zuzuwenden, den Grundlagen, auf denen er sein Werk aufbaut. Vor ihm ist in ähnlichem Sinne Vergils «Aeneis» entstanden, ein Werk, das sich an Homers «Ilias» anlehnt und seinen Schöpfer ebenfalls in die Unterwelt führt. Doch wo der antike Dichter als Person bescheiden im Hintergrund verbleibt und im Epos selbst nicht erscheint, manifestiert sich Dante selbst als der eigentliche Held seiner Geschichte, und damit bekommt die Kulturwelt ihren ersten menschlichen Sänger, der die ungeheuer gehäuften Handlungen der Menschen und ihre verstrickenden Beziehungen untereinander in sich hineinnimmt, in einem gewaltigen Epos zusammenrafft und wieder aus sich herauswirft. Diese selbstbezogene Dramatisierung ist Dantes spontane Fortsetzung griechischer Dichtung: die antike Vorlage aus persönlicher Sicht. Denn Dante ist «Wanderer» und «Weg». Er ist sein eigener Hauptdarsteller, und unter seiner Regie löst er sich aus der dramaturgischen Vorlage und gewinnt durch seine visionäre Präsenz die poetische Kraft, die selbst monströsestes Leiden virtuos und differenziert in Sprache packt. Die ganze menschliche Schöpfungsflamme steigt aus ihm empor, und im unerschöpflichen Ringen zwischen bewußtem Formulieren und unbewußtem Dahingetragenwerden entsteht hier allmählich ein Bewußtsein von Erkenntnis und göttlicher Besinnung, das sich durch die Höllen der Einsicht zu immer tieferem Erkennen vortastet. Es ist dies das Vermögen, in den menschlichen Abgründen die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu sehen und sich damit über die kollektiven Muster und Verhaltensweisen hinwegzuheben. Es ist, als habe der unbewußte Dante hier Regie geführt, wenn er von seiner riesigen Gedankenfülle nicht erschlagen, sondern unter der kundigen Obhut seines Seelenbegleiters Vergil zur inneren Offenbarung und schließlich zu seinem eigentlichen Höheren Selbst getragen wird.
Dantes anderes Selbst
«Seelenbegleiter? Höheres Selbst?! Was für abgehobene Sichtweisen …», mögen sich die LeserInnen denken. Doch erinnern wir uns: Es ist dieses Ringen um das Höchste aus der Perspektive des kleinen, eigensinnigen Ich, dieses Vermischen von Persönlichem und Universalem, Emotionalem und Klerikalem, das Dantes Sicht diese epochale Bedeutung zuteil werden ließ, das den Künstler und Gelehrten neben seinem monumentalen Werk auch emotional und dadurch menschlich erscheinen läßt. Doch wie sollte Dantes kleines Ich die Unvergänglichkeit seines Werkes mit Atem füllen? Wie sollte das Numinose nicht das begrenzte Vorstellungsvermögen des Dichters sprengen? Dazu bedurfte es eines Größeren, denn Visionen dieses Ausmaßes stellen sich nicht ganz ohne unbewußten Beistand ein. Dante brauchte noch ein höheres Wesen, ein Medium, einen Brückenpfeiler zwischen den Welten, denn nicht nur die Reise scheint ein tiefer Abstieg in seelische Abgründe, sondern die Hölle selbst erscheint als eine im Vorgriff aufgerissene Seele. Wir können davon ausgehen, daß Dante genau spürte, daß die visionäre Verdichtung seiner Imaginationen auch aus Teilen seines Unbewußten strömte und er sich in seinen Gesichtern verstrickt hätte, wenn er sie in der Seele nicht hätte ausbrüten können. Deshalb bemühte er sich um einen mentalen Beschützer: Vergil, den er geistig ins Bild brachte und den er als seine eigene Schöpfung in visionärer Leibhaftigkeit durch die Jenseitswelt imaginierte. Die Wahl von Vergil lag – wie gesehen – auf der Hand: Vergil war wie Dante Dichter und begegnete in seinem Werk den Geistern der Abgeschiedenen in einer seelischen Rückschau. Außerdem ist er erdennah: Ähnlich wie Dante mit seiner Fiktion eines Gottesreiches auf Erden strebte er nach der aktiven Gestaltung des materiellen Bereichs durch die politische und visionäre Schöpfung des Römerreichs.
Der magische Pakt mit dem Seelenführer
Damit hatte Dante, wahrscheinlich ohne es zu wissen, den entscheidenden magischen Griff getan. Durch die Einbeziehung Vergils als seelischen Begleiter hatte er sich unbemerkt den Geist der Antike zum Verbündeten gemacht, als deren Vollender er sich sah, genauso wie ich mir durch die Einbeziehung von Akron den Geist des Unbewußten zu verpflichten suchte. Genauso, wie nur Dantes überbewußtem inneren Dialog zwischen Schüler und Lehrer ein so tiefes Eindringen in die seelischen Abgründe gelingen konnte, vermag nur ein widersprüchlicher, in sich gespaltener, seine eigenen Spaltungen reflektierender und die Reflexionen gleichzeitig wieder verarbeitender Geist wie Akron mich durch die Sümpfe unverarbeiteter Seelenschlacken und Geröllhalden unbewußter Gedankenmuster hindurchzuschleusen. Nur ein Geist, der seinem Scheitern ins Auge blicken kann und erst dadurch zu seiner wahren inneren Größe findet, indem er sich in seinen Banalitäten, in seiner Unwichtigkeit und der Relativität seines Erkennens überhaupt erkennt, hat wohl die Kühnheit, mich an ein Werk heranzuführen, das die Hölle nicht einfach nur beschreiben möchte, sondern gewissermaßen dantesk in den Geist der Unterwelt eindringen will. Deshalb fühle ich mich dem «Magier» Dante noch mehr als dem kulturhistorischen Gipfel seines Werks verpflichtet, auch wenn ich die Hölle im Gegensatz zu Dante nicht in der äußeren Welt erblicke, sondern als seelischen Raum empfinde, den ich durch meine inneren Bilder bereisen kann. Ich habe mir deshalb auch als Führer keine historische Figur, sondern ein Energiefeld in meinem Kopf erkürt, mit dem ich korrespondieren kann und das mich durch meine inneren Abgründe führt. Warum?
Das Denken ist dual, und die Dualität trennt, weil das ihre Natur ist. Wenn ich also irrational denke, dann erscheint mein Verstandeszensor und pfeift mich zurück. Die Wahrheit jedoch ist mehrdimensional und hat viele Gesichter. Denken und Sprache umschreiben zwar einzelne Teile, doch Wahrheit umfaßt alle Teile eines Ganzen und ist daher der Ratio nicht einsichtig. Deshalb bedarf ich zur Erfahrung des Unbewußten einer imaginierten Gestalt, die meine Seele begleitet und mir die irrationalen Erlebnisse filtert und reflektiert, und mein inneres Bild von Akron entspricht genau dieser Vorgabe. Er ist eine seelische Vertiefung, ein unfaßbarer Abgrund, der Unvorstellbares auf der Ebene des Verstehens in Bildern ausdrücken kann, ohne der Verstandeszensur verpflichtet zu sein. Wenn es mir emotional gelingt, mich ihm anzuvertrauen, also ein persönliches Vertrauen zu einer Kraft zu entwickeln, die jenseits meiner Verstandeskontrolle liegt, dann kann ich durch sie wie mit einer Tiefseeglocke in die seelischen Abgründe jenseits von Raum und Zeit eintauchen und mich im gelassenen Vertrauen auf meine künftige Auferstehung angstfrei dort unten bewegen. Denn ich weiß: Weder ich noch mein Seelenführer sind das Ganze: Er stützt mich, und ich manifestiere ihn. Die Realität, die ich im Bewußtsein zurücklasse, verschwindet, und die Zeit bleibt in dieser Subjektivität der Seele stehen – bis ich wieder in den Körper und den Intellekt zurückkehre und das erlebte Unfaßbare auf dieser Seite des Erlebens aus mir herausschaufeln kann.
Akron – der andere Seelenspiegel
«Wer aber ist Akron?» wird sich mancher wohl am Ende dieses Vorworts fragen. Um die Wahrheit zu sagen: Ich weiß es nicht. Oder genauer gesagt: Ich bin mir nicht sicher. Ich habe mir über diese Frage aber auch schon Gedanken gemacht. Deshalb habe ich hier zwei mögliche Antworten vorbereitet, die aus ihren polaren Sichtweisen in einem übergeordneten Sinn wahrscheinlich das gleiche ausdrücken. Zuerst die esoterische:
Vor mehr als fünfzehn