Was das Lernen anging, erklärte Mutter Marguerite der erwachsenen Hannah von Bredow später: „Ich finde es nur gut, wenn ein Mädel viel lernt, besonders auch Latein und Griechisch, je mehr sie arbeitet, desto weniger neigt sie zu dummen Ideen. Ich habe ja auch rasend gelernt, aber leider, leider nicht die alten Sprachen, und Du ahnst nicht, wie das Latein z.B. mir an allen Ecken und Enden fehlt. Ich komme mir ganz verloren vor und beneide Dich um Deine Kenntnisse.“
Hannah von Bredow musste ihre Mutter allerdings daran erinnern, dass diese früher die humanistischen Interessen der Tochter abgelehnt hatte und sie „diese Lateinstunden Bitten gekostet“ hätten. Vorwurfsvoll ergänzte Hannah, dass sie „ganz allein ohne Hilfe Latein gelesen, übersetzt und geschrieben“ habe, weil „Du mich immer wieder hindertest, genau wie mit der Matura, die Du mir an meinem 12. Geburtstag fest versprochen hattest und unter dem Vorwande ‚a lady does not compete with the rabble‘ zu einem unerfüllten Traum werden ließest.“
Die unterschiedlichen Bildungsvorstellungen von Mutter und Tochter schildert Hannah von Bredow im Jahre 1929 ihrem vertrauten Briefpartner Sydney Jessen anhand eines bezeichnenden Dialogs mit ihrer Mutter: „Weißt Du noch, wie Du mir sagtest: ‚Wen liebst Du mehr, mich oder das dumme Examen?‘ Und ich antwortete: Das ist kein Vergleich, worauf Du mir sagtest: ‚Mit 17 1/2 Jahren muss man seine Weltstellung im Auge haben, wenn man eine Frau ist, und gebildete Mädeln sind beliebt, aber studierende basbleus verhasst. Lass’ es mir zu lieb.‘ Wusstest Du das noch? Und wie ich dann nach Wien fuhr und aus Bock nach den Bällen um 5 a.m. bei hellem Sonnenschein nicht ins Bett ging, sondern Virgils Aeneis lernte, just to show myself that I was a free agent, subject to nothing! Darauf lachte sie [die Mutter] und sagte: ‚Ja, jetzt wäre ich froh, wenn Du Deinen Willen durchgesetzt und studiert hättest, wer weiß, ob du dann nicht heute eine andere Position hättest.‘“
Genauso wenig wie im Jahre 1910 dürfte Marguerite von Bismarck jedoch auch im Jahre 1929 ernsthaft daran gedacht haben, dass ihre Tochter Hannah ihr beachtliches Talent für Klavierspiel und Gesang in einer künstlerischen Karriere ausleben oder angesichts ihrer ausgeprägten geschichtlich-politischen Interessen einen wissenschafts- oder politiknahen Beruf ergreifen könnte. Nach dem Tod ihres Mannes Herbert hatte Marguerite von Bismarck die 13-jährige Hannah bereits mit verantwortungsvollen Aufgaben in Haus und Hof betraut. Diese Erfahrung und Hannahs breite Bildung sollten ihr aus Sicht der Mutter eine „gute Heirat“ ermöglichen und die Grundlage für ein ausgefülltes Leben als Ehefrau und Familienmutter bieten.
Hannah von Bredow entsprach aber nicht dem Rollenbild, welches ihre Mutter einer adligen jungen Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zuordnete. Für eine adlige weibliche Normalbiografie fehlten Hannah die idealen Eigenschaften einer bloßen Gattin, Mutter, Herrin und Gesellschaftsdame. Die Grundlagen für ihr nichtkonformes Wesen legten indessen aber gerade die Familien der Bismarcks und der Hoyos’, in denen Hannah „von Kindheit auf unter Leuten, denen gründliches Wissen auf möglichst vielen Gebieten als unerlässlich für eine sogenannte gute Erziehung galt,“ lebte.
Und weiterhin erklärt Hannah von Bredow ihrem Briefpartner Jessen im Jahre 1936 zu ihren prägenden Erfahrungen: „Sei es nun in Österreich oder in Deutschland, immer waren auf den paar Gütern, die ich besser kannte, im Sommer Gelehrte, Künstler oder Musiker zu Gast, immer wurde ‚schöne Konversation‘ gepflegt oder etwas ‚getrieben‘, von den städtischen Wintern ganz zu schweigen. Als ich 16 war, nahm meine Mutter zum ersten Mal wieder eine Wohnung in Berlin und widmete sich dem Problem unserer Allgemeinbildung. Dauernd kamen Leute, die man heutzutage ‚geistig prominent‘ nennen würde, zu den Mahlzeiten, dazu gesellten sich Vorträge an der Universität (so fürs Volk ohne Abitur), in Museen etc.“
So wusste Polly, Gräfin von Plessen-Cronstern, geb. Hoyos, ihrer Schwester Marguerite im Sommer 1911 über Gespräche der 18-jährigen Nichte Hannah in Wien mit ihrem Mann Ludwig zu berichten: „Ludwig und Hannah sind nur große Politik und sonst nichts. Die Debatten gehen stundenlang, Ludwig ist selig: ‚Ganz Herbert‘, meinte er neulich.“
Prägend für Hannahs Rolle als gesellschaftliche „Außenseiterin“ war auch der Umstand, dass die häufig kranke und bettlägerige Marguerite ihrer Ältesten nach dem frühen Tod von Herbert die Rolle des Familienoberhaupts übertrug. Wie erwähnt hatte Hannah schon mit 13 Jahren verantwortungsvolle Aufgaben in Haus, Hof und Forst sowie für das Personal wahrzunehmen. Bereits in diesem Alter zeigte sie Selbstvertrauen und Resolutheit, obwohl weitere prägende Erfahrungen eher für Scheu und Zurückhaltung sprachen.
Von Geburt an war Hannah auf dem rechten Auge blind, auf dem linken Auge hatte sie eine stark reduzierte Sehkraft. Aus kosmetischen Gründen entfernte man einen Star, der das rechte Auge bedeckte, als sie vier oder fünf Jahre alt war. Außerdem hatte sie ein auffälliges rotes Muttermal am linken Unterarm, welches im Alter von sieben Jahren beseitigt werden sollte. Das erschreckende Ergebnis war, dass „der ganze Arm mit dem Rasiermesser ohne Anästhesie geschält“ wurde und auf der gesamten Länge eine rote Narbe hinterließ.
Lebenslang trug die modebewusste und elegante Hannah von Bredow Handschuhe und langärmelige Kleider. Mit eisernem Willen machte sie das Beste aus ihren körperlichen Defiziten. Von Kindheit an war sie so erzogen worden, „dass das, was mich so sichtbar von allen anderen Menschen äußerlich unterschied, an sich belanglos sei und niemals eine Rolle in meinem Leben spielen würde.“ Frühzeitig wurde ihr gesagt, „dass man es, um keine unnützen Fragen zu erwecken, und um die Menschen nicht zu stören, immer soweit verstecken würde, wie das durch Kleidung unauffällig möglich sei. Auf Fragen sollte ich ungeniert Antwort geben, da es nichts Böses, Ansteckendes oder Krankhaftes sei.“ Ihre Sehschwäche brachte es mit sich, „dass ich notgedrungen nach Stimmen, Händedrücken, Bewegungen gehen muss, weil bei mir das Auge ausscheidet.“
Hannahs körperliche Schwächen waren häufig Gegenstand von familiärem und gesellschaftlichem Klatsch. Sie stellte sich bald darauf ein: „Im Gegensatz zu meinem Vater habe ich die dickste Haut, die je ein Mann, eine Frau oder ein Kind hatte. Wenn einem ein über Alles bewunderter Vater von jeher das ‚don’t show your feelings‘, oder ‚grin and bear it‘, oder ‚smile, while your heart is breaking‘, oder ‚where’s your grit?‘ als Grundlage aller Lebenshaltung bezeichnet, wenn diese Erziehung später eisern fortgesetzt wird, kann man nicht anders, als sie anerkennen.“
Angesichts ihrer Sehschwäche schärfte Hannah ihr Gehör und schulte ihr Gedächtnis. Beides gelang ihr in außergewöhnlichem Maße, sodass sie in der Lage war, in ihren Briefen lange Gesprächsdialoge wiederzugeben. Ein Rätsel bleibt dennoch, wie sie es schaffte, ihr tägliches Leben ohne Brille zu bewältigen und mit sehr eingeschränkter Sehkraft unzählige Briefe zu schreiben und auch noch zu reiten. Nur im Kino oder im Theater trug sie eine Brille.
Den Verlauf ihres ersten Lebensjahrzehnts beschreibt Hannah von Bredow ihrem Vertrauten Sydney Jessen Ende des Jahres 1936 in knapper und plastischer Form: „Schönhausen – Berlin – Fiume-Sooß – Schönhausen – Berlin (immer im Winter bis auf 1903, wo wir in Fiume waren), Ende 1905 endgültiger Umzug nach Friedrichsruh, dessen Neubau vollendet war. Eine wohl ungewöhnlich glückliche, wenn auch wegen Misshandlungen durch Schweizerinnen ebenfalls ungewöhnlich gestörte Kindheit. Dazu eine tödliche Krankheit, weil die eine Démoiselle mir Gift gab (sie kam ins Irrenhaus, die berühmte Sadistin, der Clare Sheridan in ihrer „Nuda Veritas“ ein Denkmal setzte). Dazu auch ewige Behandlungen meiner Hand, meines Armes etc. und sehr, sehr viel Unterricht in drei Sprachen, ebenfalls sehr viel Reiten. Nothing could damp my joie de vivre.“
Hannah von Bredows zweites Lebensjahrzent erfährt eine ausführlichere Beschreibung: „Bis auf den Schock von Papas Tod (1904), vom Tod meines sehr geliebten Großvaters Hoyos (beide starben drei Wochen voneinander entfernt) wohl meine vollkommen glücklichste Zeit … Dann kam der erste Versager. Ich wollte à tout prix, da ich mit 15 Jahren schon Primareife ohne Griechisch hatte, das Abitur in Hamburg machen, hätte dafür täglich hereinfahren und eine Schule besuchen müssen und das war ein unfasslicher Gedanke. Ich schob es