„Du weißt einen Furz! Deine Mutter hat mir zehn Jahre kein Fleisch zum Essen gegeben. Du kannst sie fragen. Wie hätte ich derart handeln können, hätte sie mir nur ein kleines bisschen Ölblümchen gegeben? Du bist noch kein Mann. Das verstehst du nicht. Ohne das würde kein Mann weiterleben.“
„Was hast du mir gesagt, als du verletzt warst? Du hast deine eigenen Worte vor die Hunde geschmissen!“
Mein Vater seufzte: „Du wirst das eines Tages verstehen können.“ „Auch im Alter von hundert Jahren werde ich das nicht verstehen können. Du bist gemein!“
11
Wenn damals die Fotoalben meiner Familie übereinander gestapelt wurden, machte das etwa einen halben Meter aus. Meine Mutter nahm die zwei für sie wichtigsten mit. Ich durchstöberte alle Fotos und suchte die Gruppenaufnahmen mit meinem Vater heraus und schnitt sein Porträt mit der Schere weg. Die meisten Fotos waren schwarzweiß. Nur die besonders Guten waren in Farbe. Einige davon waren nur drei Finger breit und die Gesichter nicht größer als Sojabohnen. Auf manchen Fotos rückten die Fotografierten eng zusammen. Um meinen Vater auszuschneiden, musste ich oft entweder die Schulter meiner Mutter oder die von mir entfernen. Das Ausschneiden von meinem Vater, der mich als Baby auf den Armen trug, war nicht weniger schwierig als eine Schulprüfung. Der Schnitt musste dem Umriss meines Vaters entsprechen, um ihn optisch zu entfernen. Auf dem Foto blieben nur noch die beiden mich haltenden Hände zurück, bei deren Anblick ich Gänsehaut bekam. Ich musste auch diese entfernen. Also schabte ich sie mit Klinge ab, bis sie nicht mehr zu erkennen waren.
Nachdem ich all das erledigt hatte, fühlte ich mich innerlich nur wenig entspannt. Denn, eigentlich war da immer noch ein Gedanke. Ich hasste es, nicht alle seine inneren Organe heraus nehmen zu können, um sie auch sauber zu waschen. Ich würde die Seifen zehn Mal, zwanzig Mal benutzen und sie danach wieder zurücklegen. Ich verachtete ihn und beabsichtige daher konkrete Maßnahmen zu ergreifen, nämlich, keine Hausarbeit zu erledigen. Ich schlug stattdessen meine Beine übereinander und las die Zeitungen, die er nach Hause brachte. Während meines Lesens kam er mit gesenktem Kopf ins Zimmer, legte die neue Ausgabe vor mich hin und ging sofort wieder, ohne was zu sagen, um in der Küche etwas zu kochen. Während ich jedes Schriftzeichen und jeden Artikel bis zu Ende las, hörte ich, daß er in einem unterwürfigen Ton fragte: „Kannst du jetzt essen kommen?“ Ich legte die Zeitung weg, setzte mich an den Tisch und fing an mit ihm zu speisen, ohne aufzublicken, ohne mit ihm ein Wort zu wechseln. Seine Augen guckten mich ständig an, in der Hoffnung, daß ich etwas sagen würde. Aber durch mein Verhalten zeigte ich, daß ich nicht sprechen wollte. In der Zeitung stand klar geschrieben: Gegen schlechte Menschen soll man sich wie ein strenger Winter kalt und frostig verhalten. Ein Lump muss links liegen gelassen und verachtet werden.
Mein Vater wurde als Jungherr geboren. Wie konnte er solch eine Antipathie ertragen? Es hatte nicht lange gedauert, bis er die Initiative ergriff, mit mir zu reden: „Guang-xian, du brauchst mir keinen kalten Blick zuzuwerfen. Du weißt doch, ich könnte mit meiner Identität in der Alten Gesellschaft vier oder fünf Frauen heiraten. Wie hätte ich mit einer Frau wie Bergfluss nicht schlafen sollen? Deine Mutter konnte das nicht begreifen, weil sie mit mir nicht von gleichem Blut ist. Aber du stammst von mir ab und bist mein leiblicher Sohn. Kannst du das denn nicht verstehen und für mich Verständnis empfinden?“ Aus seiner Art zu sprechen begriff ich, daß er seinen finsteren Plan, mit Bergfluss den Kontakt aufrecht zu erhalten, nicht aufgeben wollte. Woher aber konnte er wissen, daß der vor ihm sitzende Zeng Guang-xian nicht mehr der Alte war. Dieser Zeng Guang-xian hatte nicht umsonst so viele Zeitungen gelesen. Er verstand bereits, seinen Kopf mit den darin vermittelten Theorien zu füllen und für sein Handeln zu benutzen.
Eines Abends fiel aus dem Hosengürtel meines Vaters unerwartet ein Buch, das von Altzeitungen umgewickelt war. Die Buchseiten fielen mit einem Krach weit auseinander. Es zeigte sich dabei der blanke Po einer Frau, und sogar farbig. Ich war wegen der hässlichen Darstellung völlig konsterniert. Mein Vater bückte sich, las das Buch auf, klopfte dagegen und steckte es erneut hinter den Gürtel. Mit dem Buch am Gürtel stand er am Wasserbecken, wusch Schüsseln und schaukelte sacht mit dem Oberkörper. An seinem T-Shirt zeigten sich einige Löcher. Er hatte lange graumelierte Haare und besonders die weißen stachen mir in die Augen. Sein fleißiges Tun und seine ärmliche Rückenansicht bewegten zwar mein Herz, aber dennoch konnte ich mich nicht von dem Verdacht befreien, er könnte darauf verfallen, Frauen zu belästigen oder sogar Notzucht betreiben. Wie war dem abzuhelfen? Wie könnte ich mit einer solcher Schmach und Schande fertig werden?
Du würdest heutzutage dies als Prahlerei bewerten, wenn ich das so erzähle. Ich kann dir aber versichern, daß ich nicht lüge. Ich war politisch frühreif, ganz anders als die jetzige junge Generation, die sich kein bisschen um Politik kümmert und keine Zukunft vor sich sieht. Mir war noch nie aufgefallen, daß Tausendjahr jemanden hoch einschätzte. Sogar während des Pinkelns richteten sich seine beiden Nasenhöhlen nach dem Himmel. Er senkte selten seinen Kopf, um jemand anzuschauen. Aber mich bewunderte er, weil ich ihn seinerzeit aufsuchte, um meinen Vater zu retten.
Er meinte: „Verurteilung hin, Verurteilung her, es geht bloß um das Miststück Bergfluss. Keiner hat ein Interesse mehr daran.“
„Es gibt aber in der Tat noch einige unerwähnte Sachen zur Klarstellung.“
Er hob seinen Kopf und guckte mich zum ersten Mal aufmerksam an.
„Wie Onkel Zhao führte er eine Heirat mit drei, vier Frauen ständig im Mund. War das ein Überbleibsel der feudalistischen Gedanken? Er dachte, die Familie Zhao sei früher seine Dienerschaft gewesen. Deshalb war das von ihm eine Ehre für die Zhaos, mit Bergfluss ins Bett zu gehen. Ist das eine bürgerliche Überlegenheitstheorie?“ Tausendjahr schnalzte mit der Zunge, als ob ihm ein guter Wein geschmeckt hätte. Ich sagte weiter: „Darüber hinaus las er ein Pornobuch, das hundertmal dekadenter ist als Hundepaarung.“
Ich bemerkte, daß seine Bewunderung ähnlich wie Wasser aus seinen Augen floss. Er klopfte mir auf den Kopf: „Du bist verdammt noch einmal ein geborener Politiker!“
Auf Grund meiner Informationen durchsuchten dann die Rotgardisten unser Haus und holten meinen Vater mitsamt dem Buch ab. Zwei Großgewachsene fesselten die Arme meines Vaters im Gefolge von weiteren Gardisten. Eine Menge grüner Anzüge umringte meinen Vater. Er versuchte sich zu wehren, sein Körper schoss mal in die Höhe, mal sank er wieder und zum Schluss wurde sein Kopf in die Tiefe gedrückt, wobei sein Gesäß in die Luft gehoben wurde. Sie steckten ihn in einen Wagen. Als der Wagen anfuhr, reckte er seinen Kopf durch sieben, acht Hände, warf sich gegen die Lehne und schrie aus vollem Hals: „Guang-xian, Vater kann nicht mehr für dich kochen. Die Getreidemarken liegen unter der Bambusmatte, das Geld ist unter den Steinen neben dem Schrank. Bleibe am Abend zu Hause. Benutze einen Türriegel mehr als sonst. Geh schlafen bei Hunderthaus, wenn du Angst hast. Komme ich nicht zurück, dann suche deine Mutter auf. Sage ihr, sie soll mich nicht hassen. Hast du gehört, Guang-xian...?“ Mit der Entfernung des Wagens wurde seine Stimme immer kleiner und zum Schluss zu einem schmerzlichen Schrei.
Ich wollte eigentlich nicht weinen, aber die Tränen quollen mir aus den Augen. Ich sah nicht aus wie ein standhafter Mensch. Tausendjahr verabschiedete sich als Letzter. Bevor er in einen Jeep einstieg, klopfte er mir auf den Kopf: „Alle Revolutionen bedürfen der Opfer. Es gab viele bedeutende Persönlichkeiten, die dafür ihren Nächsten opferten.“ Anschließend fuhr er stolz mit dem Wagen davon. Ich war der Meinung, alles war gut so. Auch wenn er Leid ertragen musste, lohnte es sich, wenn sie seine unzüchtigen Angewohnheiten wie meine verschriebenen Schriftzeichen ausradieren konnten.
Einige Tage später brachte der Jeep meinen Vater zurück. Im Wagen waren knapp vier, fünf Rotgardisten. Sie öffneten die Schutzbretter und traten ihm in den Hintern. Er stürzte vom Wagen zu Boden und schlug mit den Zähnen auf die Erde. Onkel Yu und Onkel Zhao halfen ihm beim Aufstehen. Seine Mundwinkel, Wangen, Arme und Brust waren überall mit Blutstriemen bedeckt, als hätte man ihn mit Lederriemen geschlagen. Sie halfen ihm ins Lagerhaus, er ging mit wackligen Beinen. Mein Vater spuckte viel Blut aus dem Mund, und im Blut sah man einen gebrochenen Zahn. Er