Vom Ende einer Rütlifahrt. Rolf Käppeli. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Rolf Käppeli
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783839268568
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an.

      Hans nimmt die Brille ab, putzt die Gläser mit dem Taschentuch. »Der Vater hat es zum Fabri­kationsleiter gebracht. Seit er vor einem Jahr in Rente ging, steht er tagein, tagaus in Wigets Rebberg. Er kennt den Weinbau wie kein anderer und erzählt Geschichten, die man in der Fa­brik ungern hört.«

      »Welche denn?«

      »Er berichtet von Verbrennungen an den Reben. Beklagt Schäden, die vom Schwefelgas der Fabrik kämen.«

      Otto schaut Hans skeptisch an. »Woher weiß er das?«

      »Die meisten Bauern in der Umgebung schimpfen. Die Ernte ist in den letzten Jahren kleiner geworden.« Hans zuckt mit den Schultern. »Einen stichfesten Beweis haben sie nicht, die Schäden können mit dem schlechten Wetter zusammenhängen.« Er hält inne. »Allerdings, die rotbraunen Spuren an den Rosskastanien, die du in der Badeanstalt findest, deuten auf die gleiche Ursache.«

      Otto rümpft die Nase. »Man sollte dem nachgehen.« Er hält inne. »Vor allem müsste man, wo wir arbeiten, für mehr Sicherheit sorgen.«

      Hans nickt. »Mein Großvater zog sich am Ofen Verbrennungen zu, er ist daran gestorben.«

      Otto macht ein verdutztes Gesicht. »Dein Großvater? Weiß Gamper davon?«

      »Ja, und der Gewerkschaft ist auch bekannt, dass sich vor 20 Jahren zwei Kollegen beim Ausräumen des Salpetersäure-Ofens vergiftet haben, einer mit tödlichen Folgen.«

      »Das höre ich zum ersten Mal.«

      »Man hat es nicht an die große Glocke gehängt, der Zusammenhang mit der Vergiftung wurde bestritten. Man wollte, dass man die Sache im Nachhinein abklärte – vergeblich.«

      »Hat deine Großmutter, als ihr Mann starb, eine Abfindung bekommen?«

      »Bis zu ihrem Tod bezog sie eine kleine Rente von der Witwen- und Waisenkasse der Fabrik. Zusammen mit dem, was die Putzarbeiten in den Herrschaftshäusern am See einbrachten, reichte es zum Überleben.«

      3

      Arm in Arm spazieren Karl und Erika Krütli über den Bahnhofsplatz, vor ihnen schlendert eine Gruppe von Angestellten vorbei an Pferdedroschken, wo Kutscher gelangweilt auf Touristen warten. Es ist 8.30 Uhr. Mit der Hand deutet Karl schräg hinüber zum See.

      »Dort, Liebste, an der Landebrücke 3, erwartet uns das Prunkstück der Waldstätterflotte. Hier beginnt unsere Hochzeitsreise.«

      Erika schaut Karl vertrauensvoll an, sie ahnt, was kommt.

      »Wenn wir mit der großen Familie auf dem Wasser sind, vergessen wir, was uns Sorgen macht: den Krieg, das Geschäft, die Zukunft. Du wirst begeistert sein.«

      Karl strahlt. »Ich habe den stolzen Raddampfer für dich und uns alle gemietet, Erika. Es wird eine unvergessliche Fahrt.«

      »Ich freue mich, was für ein wunderbares Geschenk!«

      Erikas Stimme wird leiser. »Kannst du das, Liebster: Alles vergessen, was dich beschäftigt?«

      Karl holt Atem, reckt die Brust. »Auf dem Schiff, im Schillerstübli, bei einem guten Glas Weißen, oder auf dem Oberdeck neben dem Kapitän, umringt von Schweizer Bergen, da entschwebt, was uns bekümmert.« Die Augen des groß gewachsenen Mannes weiten sich.

      Er spricht, denkt Erika lächelnd, als übte er für die Rede auf dem Festplatz.

      »Wir befinden uns im Herzen der Schweiz. Schau dich um, diese Kulisse: hinter uns der Pilatus, vor uns der schönste See in Europa, eine landschaftliche Perle. Wem die stolze Natur der Urschweiz die Seele nicht erwärmt …«, sein Blick gleitet hin zu Rigi und Bürgenstock, »wem der heutige Tag den Glauben an das Unternehmen und unser Land nicht stärkt, dem ist nicht zu helfen.«

      »Gewiss, mein Schatz.« Erika schaut zum Ufer, wo zwei Höckerschwäne schwerfällig über steiniges Gefälle hinab ins Wasser watscheln. Mit kräftigen Stößen schwimmen sie davon.

      Auf Karls Stirn bildet sich eine Sorgenfalte. »Freust du dich nicht?«

      Erika, den Schalk im Gesicht, blickt Karl verschmitzt an.

      »Welche Frage, hochgeschätzter Reiseleiter!«

      Erika zweifelt nicht an Karls Willen, ihr einen unvergesslichen Tag zu schenken. Er wird keinen Aufwand scheuen, dafür zu sorgen, dass sich der Hochzeitstag tief in ihr Gedächtnis einbrennen wird. Dies, hofft sie, wird helfen, Unebenheiten, die am Horizont ihrer Beziehung schon früh aufgetaucht sind, zu glätten. Seit sie mit Karl in der Fabrikantenvilla in Rustikon wohnt, hört Erika in Abständen von kleinen Fehltritten, die er an ihr beobachte. Ein unverblümtes Wort, locker hingeworfen am Mittagstisch der Krütlis, eine unpassende Bemerkung bei einem gesellschaftlichen Anlass. Es seien Ausrutscher, schwächt sie dann ab, Patzer, die ihr passieren. Unangenehm aufgefallen, vermerkte Karl einmal, sei ihm ihr Fraternisieren mit der Hausangestellten. Im Übrigen hätten ihn die skeptischen Blicke gestört, wenn er einen Arbeiter oder Angestellten wegen unstatthaften Widersprechens zurechtweisen müsse; das passe nicht zum Stil des Hauses, tadelte er.

      Erika nimmt Karls Nadelstiche nicht auf die leichte Schulter. Manchmal steckt sie den Argwohn weg, den Karls deftige Art bei ihr auslöst. Sie ist 18 Jahre jünger als er und überzeugt, dass der unübersehbare Altersunterschied sie im ehelichen und gesellschaftlichen Kräftemessen begünstigt. Ihr jugendliches Auftreten federt Unstimmigkeiten ab, es verschafft ihr Freiraum, den sie nutzt. In dieser Haltung wird sie bestärkt durch ihre Freundin Christa, deren Einsatz für den fabrikeigenen Kindergarten sie schätzt. Ihr vertraut sie als Einzige die Zwistigkeiten ihrer Ehe an. Karls Frostigkeiten schmelzen in der Regel angesichts Erikas verführerischen Charmes. Anderseits ist Erika bewusst, dass sie mit Karl den Spross einer industriellen Familiendynastie geheiratet hat. Diese Verpflichtung verträgt keine Leichtfertigkeiten, keine Spielerei in Beziehungsfragen. Das will und muss sie beachten, es fordert ihr einiges ab. Das Jawort, das sie Karl vor einem halben Jahr auf dem Standesamt gegeben hat, war ein Kompromiss, gestand sie Christa, keine Liebesheirat. Kommt hinzu, dass einige Regeln im Umgang, die seit Urzeiten in Karls Familie gelten, jenen einer mittelständischen Kaufmannsfamilie wenig entsprechen, im Umgang innerhalb der Familie, im Betrieb, im Kontakt mit Kunden. Die Krütlis, hat Erika gelernt, haben eigene Sitten und Rituale, die gepflegt werden, ungeschriebene Gesetze, geformt und gefestigt über 130 Jahre, als die Vorfahren den Grundstein zur wirtschaftlichen und familiären Erfolgsgeschichte legten.

      In der kurzen Zeit ihrer Ehe lebt Erika eine Form der Anpassung, mit der sie noch unzufrieden ist. Die Unterschiede zwischen Karl und ihr findet sie spannend. Sie bewundert jene charakterlichen Züge an ihrem Mann, die auch ihrem Wesen entsprechen: die Liebe zur Natur, das Interesse an Pflanzen und Insekten, die Wertschätzung des Vogelschutzes. Karls Bekenntnis zur Umwelt hat die beiden einander nähergebracht. Mehr als es gegen außen den Anschein machte. Was es in Karls Verwandtschaft und im Betrieb hinter vorgehaltener Hand zu reden gibt, die schwachen wirtschaftlichen Motive der Liaison und die lebenslustige Jugendlichkeit der Ehefrau, das alles gehört zur Oberfläche, findet Erika, es ist Stoff für Tratsch und Klatsch. Erika fasziniert Karls untergründiges Wesen, die Gegensätze in seinem Leben. Die Aufgaben des obersten Fa­brikherrn stehen in auffälligem Kontrast zu seinem beherzten Einsatz für gefährdete Tier- und Pflanzenarten: Karl, der große Naturfreund, führt ein Unternehmen, das einen internationalen Ruf darin erworben hat, wirksame chemische Mittel für die Agrarwirtschaft zu produzieren, giftige Stoffe zur Förderung pflanzlichen Wachstums, namentlich auch stinkige Schwefelsäure für Industrieprodukte.

      Die Angst vor ehelicher Langeweile kenne sie nicht, versicherte Erika ihrer Freundin einmal, als beide aus dem Nähkästchen plauderten. Bei aller Anstrengung, die das Schicksal ihr abverlange: Ihr Mann sei eine zwar nicht einfache, aber interessante Persönlichkeit, von der sie viel lerne.

      Karl lächelt, schaut hinüber zu den hochschießenden Fontänen vor dem Kunsthaus. Er kenne den Architekten des Baus, erzählt er Erika, von der Landesausstellung 1939 in Zürich, ein bedeutender Mann. Überhaupt sei die Luzerner Kai­anlage ein historischer Ort: Als Heerespolizist habe er vor vier Jahren, nach der militärischen Niederlage Frankreichs gegen