Die Familie schließt mit ihren Sorgen an, die die Koordinatorin auf dem aufgehängten Flipchartpapier festhält. Auch die Kinder trauen sich, ihre Sorge mitzuteilen. »Wenn wir bei dir sind, Papa, dann müssen wir immer so still am Esstisch sein. Und ihr streitet euch so oft mit Ali, wegen seiner Kleidung. Da will ich dann immer nach Hause«, erzählt Yunus. Weder er noch sein jüngerer Bruder spielen wie sonst auf ihrem Handy.
Der Imam kommt zu Wort und führt nach einem Bittgebet grundlegende religiöse Ansichten von Familiengemeinschaft und Freiheiten der Familienmitglieder aus: »Familie ist ein hohes Gut im Islam, genauso wie die freie Entfaltung des Einzelnen. Die Familie gilt als Grundstein der Gesellschaft, gleichzeitig bleibt die Würde des Menschen als oberstes Scharia-Prinzip davon unberührt. Was heute passiert, war schon tief in der religiösen Lebenspraxis unseres Propheten Muhamad – Friede und Segen seien auf ihm – verankert. In jeglicher Krisensituation galt schon immer die Anwendung des grundlegenden Schura-Prinzips: Alle Menschen, die zur Lösung des Problems beitragen, werden in die Entscheidungsfindung miteinbezogen. Ihr seid eine liebende Familie und ich wünsche mir für euch, dass ihr euer Problem lösen könnt.«
Die erste Phase – die Informationsphase – ist abgeschlossen und die Koordinatorin bittet die Mitarbeiterin des Jugendamtes und den Imam zu gehen. »Wenn Sie nicht weiterkommen, ich bin draußen im Foyer und warte. Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen!«, verabschiedet sich die Koordinatorin von der Familie. Die Familie benötigt anderthalb Stunden und dann stellt der Vater den Plan der Familie und der Koordination noch einmal zusammenfassend vor.8
Es gibt genaue Absprachen zu den einzelnen Kommunikationswegen. Beide Partner versuchen, in einem angemessenen Ton miteinander zu sprechen. Ali darf sich so anziehen, wie er möchte, ohne dass der Vater oder seine neue Frau darüber mit ihm diskutieren. Vor allem geht es um die Gesprächsabläufe zwischen den Ehepartnern. »Also, wenn jemand von uns irgendwie sauer auf den anderen ist, gibt es ein Redeverbot, das über drei Tage dauert. Außerdem wird mich meine Ex-Frau über alle wichtigen Dinge auf dem Laufenden halten. Gerade, was die Schule betrifft. Dafür haben wir uns darauf geeinigt, dass ich maximal einmal in der Woche anrufe. Außerdem werde ich aufhören, das Jugendamt zu kontaktieren.«
Es klingt vielversprechend. Beim Abschied wendet sich die Mutter noch einmal an die Koordinatorin. Der Vater und seine Lebensgefährtin sind schon losgefahren, um ihren Zug nach Hause zu bekommen. Die Kinder warten draußen vor der Tür. Nach drei Monaten telefoniert die Koordinatorin zwecks Evaluation mit dem zuständigen Jugendamt der Familie, um festzustellen, dass der Familienrat die Beantragung des alleinigen Sorgerechts von Frau Özgür abwenden konnte.
Nach drei Monaten telefoniert die Koordinatorin zwecks Evaluation mit dem zuständigen Jugendamt der Familie, um festzustellen, dass der Familienrat die Beantragung des alleinigen Sorgerechts von Frau Özgür abwenden konnte.
Die Informationsphase als Rahmen für die exklusive Familienzeit
In der Informationsphase des Familienrats stellen sich die Teilnehmenden vor, die Koordination prüft, ob mit allen Beteiligten eine Absprache über die Aufgabe des Treffens besteht. Die eingeladenen Fachkräfte berichten ihren fallbezogenen Kenntnisstand und referieren Wissenswertes zum Problem, ohne dabei Lösungswege anzusprechen. Die Informationsphase endet mit der Sorgeerklärung des Jugendamtes sowie einer Auftragsformulierung an die Teilnehmenden: »Machen Sie einen Plan, wie …!« Schließlich verlassen alle Fachkräfte den Raum.
Dieser konsequente Rückzug der Experten ist eines der Hauptcharakteristika des Familienrats und macht klar, wer die Verantwortung für die Entscheidungsfindung hat. Er symbolisiert Vertrauen in die Kompetenz der Familiengruppe. Im Familienrat werden Problemursachen und Problemlösungen den Familien, Verwandtschaften, Netzwerken und Mitbürgern des Umfeldes zugeschrieben. Die relationale Herangehensweise bedingt die Erweiterung auf einen weiten Kreis von Beteiligten. Die Informationsgebenden (Fachkräfte) werden am Familienratstag dabei klar von den Betroffenen (Familiengruppe) getrennt. Damit werden deren unterschiedliche Funktionen für die Teilnehmenden deutlicher und die in der Familiengruppe vorhandenen Ressourcen besser genutzt. Das Erleben von Selbstwirksamkeit der Familie wird dadurch befördert und ihre Partizipation an der Hilfeplanung verwirklicht. Die Koordination sowie die eingeladenen Fachkräfte schaffen den Rahmen für exklusive Familienzeit, enthalten sich aber bei der Lösungssuche. Das erfordert koordinatorisches Handlungsgeschick, um ein der Familie entsprechendes Setting zu ermöglichen, in deren Kontext essenzielle Informationen aus der Fachwelt ebenso wichtig sind wie herausragende, die Entscheidungen beeinflussende Personen aus dem Netzwerk der Familie. Die Planung der Hilfe findet also schon in der Vorbereitungsphase statt, wenn die Koordination gemeinsam mit der Familie den Familienratstag plant. So hantiert in der Vorbereitungsphase die Koordination entschlossen mit potenziellen Möglichkeiten aus der Ressourcen- und Informationswelt, um die für die Familie geeignete Grundlage eines individuell passenden Hilfeplans zu schaffen, den die Familiengruppe selbstwirksam mitbestimmt.
Der Familienrat als handlungsmethodisches Paradigma zur Würdigung und Nutzbarmachung von Familien- und Netzwerkbeziehungen
Der Familienrat ist kein Entscheidungsfindungsprozess, an dem Betroffene beteiligt werden. Der Familienrat beteiligt Fachkräfte. Die Wirkmächtigkeit der Familie ist bei der Lösungssuche vollwertig gegeben und wird nicht durch Expertenratschläge verzerrt. Der Familienrat im Sinne des neuseeländischen Verfahrens versteht sich nicht als ein weiteres Instrument von vielen, sondern als zentrale Norm professionellen Handelns in der Sozialen Arbeit des Landes. Die Bewältigung der Krise bleibt in der Verantwortung der Beteiligten und liegt damit nicht in der Gestaltungshoheit der Fachkräfte. Der eigentliche Familienrat gliedert sich in drei Phasen – Informationsphase, exklusive Familienzeit und Aushandlungsphase, die hier nur kurz skizziert wurden (genauere methodische Ausführungen in Roth u. Früchtel 2017 und Früchtel, Budde u. Cyprian 2013). In Deutschland findet der Familienrat in Jugendhilfe und Jugendgerichtshilfe Anwendung. In Europa ist der Familienrat in Großbritannien, Irland, Schweden, Norwegen und den Niederlanden verbreitet, wird aber auch in Belgien, Polen, Russland, Österreich und in der Schweiz genutzt. Als gesetzlich vorgeschriebenes Verfahren existiert der Familienrat neben Neuseeland auch in Irland und einigen Provinzen Kanadas und Australiens. Eine rechtliche Verankerung auf der Ebene von Verwaltungsvorschriften findet sich zudem in Österreich (im Jugendstrafrecht), Großbritannien und Norwegen. In den beiden zuletzt genannten Ländern wird der Familienrat auch in der Gesundheitshilfe, Behindertenhilfe, Sozialpsychiatrie, Altenhilfe und in Schulen als Hilfeplanungs-, Unterstützungs-, Mediations- oder Entscheidungsverfahren eingesetzt. Der Familienrat im Sinne des neuseeländischen Verfahrens versteht sich nicht als ein weiteres Instrument von vielen, sondern als Prämisse für professionelles Handeln. So eröffnet sich ein neuer Handlungsspielraum professioneller Expertise, die hier näher betrachtet wird.
Die Haltung professioneller Fachkräfte und die Erkenntnis, dass Familien am ehesten Pläne umsetzen, die sie selbst entwickelt haben oder an denen sie aktiv beteiligt waren, zeichnen das Verfahren wesentlich aus. Praktizierende Sozialarbeitende wie auch Bürgerkoordinatoren9 berichten davon, dass die Familie und das Netzwerk zügig ihre Rollenzuschreibungen während des Familienrats begreifen, jedoch vereinzelt Experten schwer von Lösungsvorschlägen loslassen können. Ist das jedoch erst einmal überwunden und die Konzentration der Fachkräfte auf die Informationsphase fokussiert, eröffnet sich eine professionelle Dimension, die im Kontext sozialarbeiterischen Handelns nicht nur ungewohnt erscheint, sondern grundlegende Wirkmechanismen pädagogischen und auch therapeutischen Handelns freisetzt. Die Radikalität, der Familie die Hoheit im Entscheidungsfindungsprozess und zur Gestaltung der Hilfeplanung zu übergeben, impliziert