Autorin
Manuela Nemes ist Österreicherin, lebt und arbeitet im Bundesland Salzburg. Ein Ereignis in ihrem Leben erweckte in ihr den Gedanken dieses Buch zu schreiben. Für private Zwecke textet und komponiert sie seit ihrer Kindheit und so entstand auch die Idee jedes Kapitel des Buches mit einem entsprechenden Lied oder einer Melodie abzuschließen.
Manuela Nemes
WER DIE RUHE HAT, HÖRT DIE STILLE
Erzählung
Engelsdorfer Verlag
Leipzig
2021
Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Copyright (2021) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
Titelbilder: Noten © Argus [Adobe Stock]
Frau © olly [Adobe Stock]
Notenerstellung mit Crescendo Masters (NCH Software)
1. WEIHNACHTEN
Das Weihnachtsfest sollte nicht sehr berauschend werden. Den 24. Dezember wollte ich wie jedes Jahr, mit einer Ausnahme, bei meinen Eltern verbringen. Sie wohnen etwa drei Stunden mit dem Auto von mir entfernt. Mein Bruder wollte auch kommen mit seiner Frau und den beiden Kindern – nur unsere Schwester Marie würde wieder einmal fehlen. Sie wohnt in Amerika. An derartigen Feiertagen beneide ich Marie immer wieder. Sie konnte stets dieses Wir-müssen-heute-besinnlich-sein und das Wir-müssen-uns-heute-etwas-schenken mit der Ausrede, die Flüge seien zur Weihnachtszeit zu teuer, gekonnt umgehen. Marie war sich bewusst, dass sie mit Sparsamkeit bei unseren Eltern auf großes Verständnis trifft. Vor mir lag also eine Drei-Stunden-Autofahrt bis zu meinem Elternhaus.
Ich war etwa einen Kilometer von der Autobahnauffahrt entfernt und machte das Radio an. Da kam mir der Gedanke, ich sollte die Bundesstraße anstelle der Autobahn nehmen. Bei Schneefall ist die Autobahn oft mit Autos blockiert, weil diese dann fast im Schritttempo fahren müssen, wenn die Fahrbahn nicht ordentlich geräumt ist. Als ich jedoch merkte, dass selbst die Bundesstraße gut vom Schnee geräumt war, fuhr ich auf die Autobahn auf, weil es schließlich der schnellere Weg zu meinen Eltern sein sollte. Etwa fünfundvierzig Minuten und siebenunddreißig Weihnachtshits später hörte ich im Radio, dass die Bundesstraße wegen umgestürzter Bäume gesperrt worden war.
„Puh! Glück gehabt!“, dachte ich.
Die gesamte Fahrt war, bis auf die Tatsache, dass sie aufgrund der sich verschlechternden Schneeverhältnisse viereinhalb Stunden dauerte, ganz gut. Ich verstehe gar nicht, weshalb sich so viele Menschen immer darüber beschweren, wenn es zur Weihnachtszeit keinen Schnee gibt. In meinem Fall erspart man sich bei schneearmem Winter eineinhalb Stunden Fahrt. Aber gut. Ich kam also in dem Wohnort meiner Kindheit an und parkte in die noch einzige Parklücke den Wagen. Etwas müde und einmal tief ein-und ausatmend läutete ich an der Hausglocke.
Meine Mutter öffnete mir tief schnaufend die Türe. Der Blick in ihrem Gesicht, genau genommen ihre gegen den Uhrzeigersinn rollenden Augen, ließen mich erahnen, dass Vater gerade wieder einmal, wie jedes Jahr, versuchte, den Christbaum in Position zu bringen. In unserer Familie heißt das so viel wie: Egal wie der Baum steht, er steht falsch. Mein Bruder Theo war auch schon da und ich ging ins Wohnzimmer und begrüßte ihn und unseren Vater herzlich – zumindest aus meiner Sicht, denn Theo beschwerte sich anschließend, ich hätte ihm nicht in die Augen gesehen, als ich „Hallo“ sagte.
Da standen sie also nun: Mein Vater und der Tannenbaum. Drehte er die Tanne nach links, sah man aus der Blickrichtung, aus der man den Raum betrat, die kahle Stelle in der vierten Astreihe, drehte er ihn nach rechts, wirkte die Baumspitze schief. Das ganze Hin und Her hatte trotzdem auch sein Gutes: Mein Vater war beschäftigt. Theo half ihm und ich unterstützte unsere Mutter in der Küche, um das Abendessen vorzubereiten.
Meine Schwägerin Isi war währenddessen mit den Kindern in der Kindermette. Nach etwa zwei Stunden hatte mein Vater den Baum endlich in die richtige Position gebracht – er einigte sich mit meinem Bruder auf eine Halb-links-halb-rechts-Drehung. Als meine Schwägerin mit den Kindern Tom und Jerry – so nenne ich sie immer, denn eigentlich heißen sie Thomas und Jayden – wieder nach Hause kam, gab es die Bescherung. Vater und mein Bruder zündeten die Kerzen am Baum an.
Endlich: Kerzen an, Licht aus. Diesen Moment mochte ich schon immer sehr: Er hat etwas Friedliches, etwas Ruhiges, einen Drei-Mal-tiefeingeatmet-Augenblick und der beruhigt und wenn dann auch noch das „Stille-Nacht“-Lied auf der alten Schellackplatte erklingt, bin ich endgültig seelenentspannt. In diesem Jahr durfte meine Seelenentspanntheit allerdings nicht bis zum Ende des berühmten Weihnachtsliedes wirken.
Bei dem Text „Durch der Engel Halleluja“ stieß meine Mutter zeitgleich mit den beiden Sängern, die aus dem alten Lautsprecher zu hören waren, ein „Halleluja“ aus und rannte in die Küche. Die zwei Sänger sangen natürlich weiter und nach der Textstelle „Tönt es laut von ferne und nah“ hörten wir alle aus der Küche ein verzweifeltes: „Verdammt!“
Mutter hatte zu Mittag vergessen, das Bier für das Weihnachtsessen zu kühlen und weil sie dies erst kurz vor meiner Ankunft bemerkt hatte, legte sie sieben Flaschen in den neu gekauften amerikanischen Tiefkühlschrank, damit diese zum Abendessen die gewünschte Temperatur hätten. Aus, vorbei.
Die Sänger duften nicht einmal mehr fertig singen, die Kerzen wurden ausgedämpft und das Licht angemacht, die Raumtemperatur glich sich jener des Gefrierschrankes an und mein Vater erklärte meine Mutter für verrückt und fauchte sie kopfschüttelnd an: „Ich kann nicht verstehen, wie jemand so blöd sein kann sieben Flaschen Bier im neuen Tiefkühlschrank zu vergessen?“
Mutter weinte. Isi und ich befreiten das Innenleben des Gefrierschrankes von den Glasscherben und dem ausgelaufenen Bier.
Vater fluchte durch den Raum und drehte den Baum etwas nach links. Theo sah Isi und mir zu, um dezent darauf hinzuweisen, wo noch weiteres Bier-Eis war und Tom und Jerry plünderten die Geschenke unter dem depositionierten Baum. Nach etwa einer halben Stunde hatten sich Mutter und Vater wieder beruhigt. Der Baum wurde auch wieder etwas nach rechts gedreht und alle packten ihre Geschenke aus. Ich bekam unter anderem eine weiße Bluse, die ich mir gewünscht hatte und freute mich sehr darüber. Die anderen waren auch glücklich über ihre Geschenke und ich beobachtete hauptsächlich ihre Reaktionen auf die Pakete, die sie von mir erhalten hatten.
Meiner Mutter schenkte ich wie bereits im Vorjahr einen Massagegutschein, weil sie aus für sie unerklärlichen Gründen immer so verspannt war. Sie freute sich sehr darüber und meinte, sie werde sich dann wieder diese tolle Körpercreme in dem Massagestudio kaufen, die ihre Haut so zart mache. Ich freute mich mit ihr. Vater lächelte schon während des Auspackens seines Geschenkes: Eine neue Schellackplatte für seine Sammlung.
Ich hatte vergangenen Herbst bei einem Frustkauf in einem kleinen Laden eine signierte Platte von seinem Lieblingssänger gefunden, die meinem Vater noch in der Sammlung gefehlt hatte. Wer einen Sammler kennt, weiß, was das für einen Wert hat. Es war schön, meinen Vater so glücklich zu sehen. Meinem Bruder und seinen Söhnen schenkte ich Tickets für ein Fußballspiel und wer Fußballfans kennt, weiß eben auch, was das für einen Wert hat. Herrlich, dass alle so zufrieden waren. Auf Isis Reaktion war ich besonders gespannt. Sie hatte ein sehr bewegtes Jahr hinter sich. Ihre Mutter war Anfang des Jahres gestorben und ihr Vater lag nach wie vor mit einem Lungenkarzinom im Krankenhaus. Daher wollte ich ihr etwas schenken, bei dem sie ihre Seele baumeln lassen konnte. Ich besorgte ihr Geschenk ebenfalls während des einen Frustkaufs, bei dem