Aber es gab noch mehr Variablen, abhängig von der eigenen Komfortzone, die gegen überaus reale Sorgen und Situationen im häuslichen Arbeitsumfeld in die Waagschale geworfen wurden. Doch auch das begann sich zu ändern. Einige Führungskräfte hatten in der Anfangsphase der Krise die Befürchtung, die »Kontrolle« über ihre Mitarbeiter und ihre geschäftlichen Aktivitäten zu verlieren. Sie gelangten zu der Ansicht, es sei an der Zeit, nach vorne zu schauen und zu irgendwelchen Arbeitsgewohnheiten »zurückzukehren«, die der früheren »Normalität« entsprachen.
Doch das wäre ein Fehler.
Im ersten Corona‐Jahr haben wir den Anstieg einer extremen virtuellen Distanz erlebt.
Extreme virtuelle Distanz bezieht genau diejenigen Formen der Distanz ein, die wir seit mehr als einem Jahrzehnt erforscht und in diesem Buch beschrieben haben:
weitreichende und anhaltende »Traumatisierung«,
kognitive Dissonanz und
extreme Isolation.
Weitreichende und anhaltende Traumatisierung
Eine weitreichende und anhaltende Traumatisierung ist beinahe unvermeidlich, wenn man mit Schreckensnachrichten geradezu bombardiert wird. Bei einigen erfolgt sie unbewusst und taucht nur von Zeit zu Zeit in Träumen auf. Scientific American,1 eine populärwissenschaftliche Zeitschrift, veröffentlichte schon früh eine faszinierende Studie, die sich mit der Zunahme von Träumen/Alpträumen seit Beginn der Corona‐Krise befasste. Bei anderen finden die traumatischen Erfahrungen entweder in den eigenen vier Wänden oder bei Menschen statt, die uns nahestehen und Angehörige infolge der Viruserkrankung verloren haben. Ein Trauma kann sich auch in Gestalt von Schuldgefühlen entwickeln, vor allem bei Frauen, die versuchen, den beruflichen Aufgaben gerecht zu werden und gleichzeitig genug Zeit zu erübrigen, um die Kinder beim Homeschooling zu unterstützen und deren Bedürfnisse zu erfüllen.2
Führungskräfte sollten den Aspekt der Traumatisierung im Blick behalten, weil er daran erinnert, dass wir das Problem der virtuellen Distanz schon allein deshalb in Angriff nehmen müssen, um Mitarbeitern das Gefühl zu geben, dass sie nicht alleine sind, dass sie in dieser Krisensituation ihrem Arbeitgeber oder den Mitgliedern ihrer Gemeinde vertrauen und notfalls Hilfe in Anspruch nehmen können.
Kognitive Dissonanz
Kognitive Dissonanz entsteht, wenn Menschen Überzeugungen haben, die einander widersprechen. Einerseits haben wir das Gefühl, dass wir uns in einer Situation befinden, die uns hochgradig verletzlich macht, und andererseits fühlen wir uns verpflichtet, dessen ungeachtet unsere Arbeit zu verrichten. Kognitive Dissonanz ist belastend und kann zu einem Zustand geistiger Erschöpfung führen. Wie bei der Traumatisierung sind sich viele Menschen nicht einmal bewusst, dass sie, gleich ob in geringem oder hohem Maß, einem inneren Konflikt ausgesetzt sind. Dieser Zustand unterscheidet sich von einem Trauma, kann es aber noch verstärken.
Für sich betrachtet, müssen wir mental besonders hart daran arbeiten, unsere Fokussierung auf Aufgaben und Verpflichtungen beizubehalten, denn sonst kann die unglaubliche Realität des Geschehens in unserem Umfeld unsere Gedanken derart fragmentieren, dass wir überhaupt nichts mehr zustande bringen. Neben den traumatischen Erfahrungen müssen wir also noch vieles mehr bewältigen, was eine Menge mentale und organische Energie erfordert und das Gefühl der mentalen Erschöpfung noch intensiviert.
Extreme Isolation
Extreme Isolation ist eine Erfahrung, die die meisten Menschen, wenn nicht sogar alle, während der Corona‐Krise machen. Wenn wir den Computer zu Hause ausschalten, wissen wir, dass wir den Kontakt zu anderen weitgehend einschränken müssen. Wie bereits erwähnt, ist dieser mentale Zustand anders geartet als derjenige, den wir vielleicht vor der Pandemie bei der Remote‐Arbeit erlebt haben. Manche reagieren auf diese extreme Isolation, indem sie ihre Arbeitsgeräte sofort zum Fenster hinauswerfen würden, wenn sie dafür die Möglichkeit erhielten, jemanden zu umarmen. Andere gehen eine noch engere Verbindung zu ihrem Fernseher oder Rechner ein, um Filme anzuschauen, die sie genug ablenken, um das reale Leben eine Weile zu vergessen.
Wie auch immer, extreme Isolation entfernt mehr und mehr Kontext aus unserem Alltag und hat definitionsgemäß ein exponentielles Wachstum der virtuellen Distanz zur Folge.
Angesichts der rasanten Veränderung der Situation durch Covid, seine Mutationen, Varianten und die endlosen unbeabsichtigten Folgewirkungen, die sich jeden Tag zeigen, weil wir uns sicherheitshalber in einem Kokon »abkapseln« müssen, ist es nun wichtiger als jemals zuvor, das Problem der virtuellen Distanz zu verstehen und in Angriff zu nehmen.
Das Schreckensszenario, das vor mehr als einem Jahrzehnt im Gespräch mit dem Visionär eines Finanzdienstleistungskonsortiums Ängste bei mir entfachte, ist Realität geworden. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir unfähig sind, zumindest ansatzweise Führungskompetenz und Führungsstrategien in Betracht zu ziehen, die in Best Practices zur Verringerung der virtuellen Distanz wurzeln und – in beinahe unheimlicher Weise – auf standortunabhängiges Arbeiten ausgelegt sind.
Unsere Empfehlung: Versuchen Sie, während Sie dieses Buch lesen, die Anwendung der Strategien und die Erörterungen im Licht der oben beschriebenen, extremen virtuellen Distanz zu betrachten. Wenn Sie das Konzept der seelenbasierten Führung (im 10. Kapitel genauer erläutert) nutzen, um die Tatsache zu verinnerlichen, dass sich das menschliche Dasein während des letztes Jahres grundlegend geändert hat und es heute mehr denn je erforderlich ist, Menschen auf der emotionalen Ebene zu einer Solidargemeinschaft zusammenzuschweißen, dann wird dieses Buch die Kontinuität unternehmerischer Aktivitäten, das Krisenmanagement und das Wohl der Mitarbeiter fördern – in noch höherem Maß, als es vor weniger als einem Jahr vorstellbar war.
Die Pandemie wird hoffentlich in naher Zukunft abklingen. Danach werden die Organisationen gezwungen sein, zu ergründen, wie eine optimale Kombination aus virtueller versus nicht‐virtueller Arbeit aussehen könnte. Ungeachtet dessen, wie Arbeit künftig organisiert sein wird, die Prinzipien, die zur Verringerung der virtuellen Distanz beitragen, werden nach wie vor eine solide, empirisch basierte Methode der Mitarbeiterführung darstellen.
Anmerkungen
1 1 https://www.scientificamerican.com/article/the-covid-19-pandemic-is-changing-our-dreams/#:∼:text=Bulkeley's%20three%2Dday%20poll%20revealed,and%20being%20threatened%20by%20others.
2 2 https://www.vox.com/22060380/covid-parents-burnout-schools-closed-kids-pandemic.
Vorwort
Vor fünfzehn Jahren veröffentlichten wir unser erstes Buch zum Thema virtuelle Distanz.
Die Vorhersagen, die wir darin trafen, bewahrheiten sich.
Die virtuelle Distanz ist ein Phänomen, das sich überall in der Welt rasant verbreitet hat. Es wirkt sich nicht nur auf die Geschäftsentwicklung, sondern auch im familiären Bereich, im Bildungssektor, im Gesundheitswesen und in jeder Institution oder Gemeinde aus, in der Menschen interagieren und kommunizieren.