»Oinky-doinky!« Die Maisstauden teilen sich; Heathcliff, mittlerweile ein stattlicher Keiler von den Ausmaßen eines VW Polo, stürmt heran und wirft sich Sir Percy in die Arme. »Du kleiner Schelm!«, ruft dieser. »Wolltest mir einen Schrecken einjagen.«
Und dann werde ich Zeuge des bezauberndsten Naturschauspiels, dem ich je beiwohnen durfte.
Wie auf Kommando stellen die Wildschweine sich im Halbkreis vor Sir Percival auf.
Ich befürchte einen Angriff, will schon eingreifen, beziehungsweise weglaufen, da gibt Sir Percy mir ein Zeichen, mich still zu verhalten.
Lady Claire stampft, einmal, zweimal mit dem rechten Vorderhuf auf, trampelt einen Takt, und dann beginnen alle, miteinander zu grunzen, schnell erkenne ich das Lied: Die ganze Rotte grunzt »For he’s a jolly good fellow«, um Sir Percival willkommen zu heißen, das Lied, das er ihnen, nebst anderen britischen Traditionen, einst beigebracht hatte.
Etwas später. Wir haben es uns auf einem Kartoffelacker gemütlich gemacht und brunchen mit der Wildschweinfamilie, es gibt junge Kartoffeln und frische Regenwürmer auf Toastbrot. Sir Percy lässt eine Thermoskanne Tee herumgehen, an der die Schweine schmatzend saugen.
»Ich hätte nie gedacht, dass sie uns Menschen so ähnlich sind«, flüstere ich Sir Percival zu.
Der nickt. Ganz entspannt ist allerdings niemand, das hier ist immer noch ein Jagdrevier. Es sollen Waidmänner gesichtet worden sein, und die Wildschweine sind trotz aller Wiedersehensfreude wachsam.
Das Naturvolk der Waidmänner (in ihrer eigenen Sprache nennen sie sich »Halali«) lebte einst als Jäger und Sammler in den urtümlichen Regenwäldern Brandenburgs, bis hier im Nichts die künstliche Hauptstadt Berlin aus dem Boden gestampft wurde. Das Berliner Schurkenregime fing die freien Waidmänner ein und verdonnerte sie zu einem sesshaften Lebensstil. Heutzutage vegetieren sie in primitiven Reihenhaussiedlungen, verlernen ihre alte Sprache, das Jägerlatein, gehen geregelter Arbeit nach und werden darüber depressiv und alkoholkrank. Am Wochenende aber legen sie ihre grüne Stammestracht an, beschmieren sich die Gesichter mit Blut und wandern singend hinaus in die alte Waldheimat, wo sie nach Art der Vorfahren Jagd machen auf »Rotwild« und »Schwarzwild«, wie es in ihrer Sprache heißt.
Dem Volk der Schreber, das das fruchtbare Grasland zwischen Elbe und Ural jahrtausendelang als Kleinviehzüchter und Gärtner bevölkerte, bekam der sogenannte Fortschritt nicht besser. Ihre gewaltigen Karnickelherden wurden aus »hygienischen« Gründen vergast, ihre Gemüsegärten in nachhaltige Freizeitparks für junge Musterfamilien umgewandelt. Die kümmerlichen Überreste des Stammes leben in »Schrebergartenkolonien« genannten Slums an der Grenze des Stadtmolochs. Doch ihre baufälligen Wellblechhütten und Wohnwagen, ihre Gartenzwerg-Totems und Bambi-Fetische sind der Obrigkeit weiterhin ein Dorn im Auge. In den nächsten Jahren sollen sie einem »Kiez« weichen, für die wachsende Schar der Hipster und Kreativen, die heuschreckengleich aus den entlegensten Sümpfen und Hinterwäldern in Berlin einfallen, auf der Suche nach Futtertrögen und Wohnraum.
Plötzlich ertönt ein Pfiff so schrill, dass ich mich fast an meinem Engerling verschlucke. Ich blicke auf. Die Wildschweine gehen in Kampfformation.
»Die Waidmänner«, schießt (sic!) es mir durch den Kopf. Doch als ich aufblicke, sehe ich nur eine zwergenhafte, in Kakiuniform und rotes Pfadfinderhalstuch gekleidete Gestalt mit Feldstecher, vielleicht 1,20 Meter hoch, die uns vom Rand des Ackers aus beobachtet.
Ein Spreewaldpygmäe, denke ich aufgeregt, wir haben das verlorene Volk der Spreewaldpygmäen entdeckt, das immer noch ohne Kontakt mit der Zivilisation in den undurchdringlichen Auwäldern hausen soll. Als die Gestalt sich langsam nähert, erkenne ich, dass ich mich geirrt habe. Es ist kein Spreewaldpygmäe. Es ist Hannes Jaenicke.
Ein Kameramann folgt ihm geduckt.
»Konkurrenz«, ruft Sir Percival empört.
Schnell hissen wir das BBC-Banner und die National-Geographic-Flagge. Diese Rotte gehört uns!
»Können wir verhandeln?«, ruft Jaenicke. »Ich brauche nur ein paar Aufnahmen, wo ich mit Wildschweinen kuschle und
Frischlinge herze. Dafür kriegen Sie exklusives Großtrappenmaterial von mir. Total flauschige Küken.«
»No fuckin’ way«, brüllt Batchelor und richtet einen alten Vorderlader, wo hat er den auf einmal her?, auf Jaenicke.
Der weicht zurück. Doch im Hintergrund sehe ich eine gewaltige Staubwolke aufsteigen: Das restliche Team der ZDF-Sendung Deutschlands letzte Paradiese ist im Anmarsch. Kamerakräne, Lastwagen, Kabelrollen, Raupenfahrzeuge, Luxuswohnmobile, Andreas Kieling im Lendenschurz auf einem Przewalski-Pferd und die komplette Fernsehgarten-Bühne.
Die sind in der Überzahl. Uns bleibt nur die Flucht.
Hinein in den Busch. Ich finde mich auf einem Wildschwein reitend wieder, ich glaube, es ist Paddingtons ältester Sohn Harvey oder Horsey. Tiefer, immer tiefer dringen wir in die unberührte Wildnis vor, rennen Jogger um, weichen Wisenten aus und zertrampeln illegale Cannabispflanzungen.
Irgendwann, nach gefühlten Stunden, halten wir inne. Hannes Jaenickes verzweifelte Stimme, »Ich gebe euch Rohrdommeln, Löffelreiher, Trauerschnäpper, was immer ihr wollt«, ist in der Ferne verpufft, Andreas Kielings gutturale Kriegsschreie sind verklungen. Wir haben sie abgehängt. Auf einer Lichtung lassen wir uns erschöpft in den Schlamm fallen. Lady Claire schickt Wachtposten und Späher aus.
Diese Gegend hat bestimmt noch nie ein Mensch betreten, denke ich, und lehne mich gegen einen bemoosten Baumstamm.
»Wie kommt es eigentlich«, frage ich Sir Percival, »dass die Schweineversteher immer männlich sind? Henry Lee Nugent, Dr. van Eyck, Sie, während die Menschenaffenforscherinnen alle weiblich waren: Jane Goodall bei den Schimpansen, Dian Fossey bei den Gorillas, Birutè Galdikas bei den Orang-Utans …«
»Well«, sagt Sir Percival und beißt einer Haselmaus den Kopf ab. »Wir Männer können uns vermutlich besser in die sensiblen Schweine hineinversetzen. Frauen fehlen da wohl einfach die nötigen Antennen für die monolithische Gefühlswelt der scheuen Tiere.«
»Ah ja«, sage ich und beiße in einen roten Pilz mit weißen Tupfen drauf, von dem mir die Wildschweine durch aufmunterndes Zugrunzen versichert haben, dass er ungiftig sei.
»Während Frauen mit ihrem Multitasking«, fährt Sir Percy fort, »die Ordnung in so einer Rotte nur durcheinanderbringen würden. Bei Wildschweinen gibt es für alles eine Zeit: Suhle ist Suhle, und Eichelmast ist Eichelmast, da gibt’s kein Vertun.«
»Wahrlich«, sage ich zerstreut und nehme mir einen zweiten Pilz. Wirklich lecker, die Dinger. Erdiges Aroma mit nussiger Note, ein Hauch mulchig im Abgang.
»Außerdem sind, wie Sie ja mittlerweile wohl wissen werden, Wildschweine streng matriarchal organisiert. Ein rottenfremdes Weibchen würde von der Alpha-Bache als Konkurrenz angesehen werden. Zickenkrieg vorprogrammiert. Bei einer patriarchal organisierten Gesellschaft, wie eben Menschenaffen, stellt sich das Problem natürlich nicht. Beziehungsweise eben doch, nur umgekehrt.«
»Umgekehrt. Latürnich«, sage ich. Einer geht noch, denke ich und esse den nächsten Pilz. Endlich fange ich an, mich wohlzufühlen unter den wilden Schweinen. Ich wühle mich tiefer in den Dreck hinein und fange an zu tagträumen. Fast wie im Märchen hier.
Gerade als ich kurz vor dem Wegtreten bin, kommt ein junger Keiler auf unsere Lichtung gesprintet. Aufgeregt grunzt er etwas in seiner Sprache. Die anderen Wildschweine sind sofort hellwach.
»Sie scheinen etwas entdeckt zu haben«, meint Sir Percy. »Folgen wir ihnen.«
Leicht benommen stolpere ich hinterher.
Plötzlich öffnet sich das Dickicht des Waldes und gibt den Blick auf eine grüne Ebene frei: Felder, so weit das Auge reicht, Gurkenfelder, nichts als Gurken, dazwischen Bewässerungskanäle und Schilfhütten.