Einen nennenswerten politischen Erfolg konnten die zahlenmäßig wenigen, aber in der öffentlichen Debatte lautstarken Anhänger »völkischer« Positionen im Jahr 1913 verbuchen. Mithilfe von Lobbygruppen wie dem »Alldeutschen Verband« und der »Deutschen Kolonialgesellschaft« erreichten sie, dass dem neuen Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht das »ius sanguinis« und nicht ein auf den Ort der Geburt abstellendes »ius soli« zugrunde gelegt wurde, dass das Deutsche Reich sich als Schutzmacht aller – auch der im Ausland lebenden – Deutschen verstand und dass »nichtdeutsches Blut von der Aufnahme in das deutsche Vaterland« abgewehrt werde.6 »In der Hauptsache«, so der deutsch-konservative Reichstagsabgeordnete Ernst Giese, müsse »die Abstammung, das Blut[,] das Entscheidende für den Erwerb der Staatsangehörigkeit« sein: »Diese Bestimmung dient hervorragend dazu, den völkischen Charakter und die deutsche Eigenart zu erhalten und zu bewahren«. Ein »ius soli« hingegen sei »unverträglich mit der Reinerhaltung unserer völkischen Eigenart«.7 Durch informelle Einflussnahme vereitelten die »Völkischen«, dass die von den Sozialdemokraten favorisierte Variante einer Staatsbürgernation im Reichstag eine Mehrheit fand. Das verabschiedete Gesetz galt in seinen Grundzügen bis 1999 weitgehend unverändert.
Bildeten die »Völkischen« auch nur eine quantitativ kleine Gruppe, so trugen sie doch durch unzählige Publikationen zur Bekanntmachung ihrer Vorstellungen bei. Werke, die im Umfeld dieser »Bewegung« entstanden, wie Rembrandt als Erzieher von Hans Langbehn (1890), Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain (1899), Das dritte Reich von Arthur Moeller van den Bruck (1923) oder Volk ohne Raum von Hans Grimm (1926) fanden den Weg in viele bürgerliche Wohnstuben und Bücherschränke – und bereiteten der Verbreitung entsprechenden Gedankenguts den Boden. Auch wenn die Nationalsozialisten bisweilen auf die »Völkischen« herabblickten und sich ab Mitte der 1920er-Jahre kritisch zum Begriff des »Völkischen« äußerten, um sich von der Vielzahl an »völkischen« Denkern und Gruppen abzugrenzen, standen sie doch in einer weltanschaulichen Ahnenreihe mit ihnen. Hitlers Reden und seine Programmschrift Mein Kampf waren durchzogen von »völkisch«-rassistischem Gedankengut. Auch in seinem Denken kam dem Volk ein herausragender Stellenwert zu. Das »deutsche Volk« zu »reinigen«, es »aufzuwerten« und seinen »Lebensraum« zu vermehren, war Hitlers oberstes Ziel. Hierzu propagierten er und die Nationalsozialisten eine Rassen- und Expansionspolitik, die rücksichtslos gegen vermeintliche »innere« und »äußere« Feinde des »deutschen Volkes« vorgehen müsse. So verkündete er bei einer Rede auf einer NSDAP-Versammlung in Heide am 14. Oktober 1928 etwa: »Jedes Volk hat ein Recht auf die ihm notwendige Bodenmenge und diese muß es sich verschaffen, muß es sich nehmen.«8 Juden gehörten in den Augen der Nationalsozialisten nicht zum »deutschen Volk« dazu. Das Programm der NSDAP von 1920 stellte lapidar fest: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist […]. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.«9
Die beschriebene Radikalisierung der Begriffsbedeutung seitens der extremen Rechten führte allerdings nicht dazu, dass Volk im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik im allgemeinen Sprachgebrauch nur in einem ethnisch-rassistischen Sinne verwendet wurde. Der Begriff war weder einseitig »völkisch« aufgeladen, noch wurde er ausschließlich von entsprechenden Kreisen gebraucht. Vielmehr nutzten ihn Sprecher fast aller politischen Lager. In der Weimarer Republik wurde mit ihm sowohl für die Republik geworben, als auch diese bekämpft. Insgesamt scheint er aber wesentlich häufiger in der Bedeutung »demos« und »plebs« als in der explizit ethnischen Lesart verwendet worden zu sein. Jedoch wurde der Volksbegriff selbst bei Sprechern aus den Milieus, die die Republik unterstützten, selten zugunsten eines pluralistischen »demos« gebraucht. Auch das Volk der Staatsbürgernation ließ sich mit metaphysisch-holistischen Vorstellungen, etwa der von einem »Volkskörper« mit »Willen« und »Charakter«, aufladen. Eine solche – während der Weimarer Republik etwa im politischen Katholizismus häufig anzutreffende – Verwendungsweise negierte die Realitäten im neuen Staat und eröffnete Andockstellen für ethnische Konzepte.
Nichtsdestoweniger wurde der Volksbegriff während der Weimarer Republik in seinen verschiedenen Bedeutungen verwendet. Erst mit der Ausschaltung der politischen Opposition und der freien Presse ab 1933 änderte sich dies grundlegend. Der politisch-gesellschaftliche Diskurs wurde fortan in hohem Maße durch Staat und Partei kontrolliert, unliebsame Meinungsäußerungen konnten – sofern sie überhaupt noch (halb-) öffentlich getätigt wurden – hart bestraft werden. Für Weltanschauung, Politik und Propaganda der Nationalsozialisten war das »deutsche Volk« als biologistisch oder metaphysisch-holistisch gedachte rassistisch-ethnische Gemeinschaft von zentraler Bedeutung. Es und seine angeblichen Interessen dienten zur Legitimation von Ausgrenzung, Vernichtungskrieg und Genozid. Ihm hatte sich alles unterzuordnen – der Slogan »Du bist nichts – dein Volk ist alles«10 brachte ein solches Denken prägnant auf den Punkt. Die von den Nationalsozialisten postulierte und von vielen Deutschen bereits seit dem Ersten Weltkrieg erhoffte Verwirklichung einer harmonischen »Volksgemeinschaft« blieb Fiktion. Die Ansätze der Nationalsozialisten, eine solche klassenlose Gesellschaft zu schaffen, waren stets mit der Exklusion von angeblich »Volks-« und »Gemeinschaftsfremden« verbunden gewesen. Und selbst Hitler musste im April 1945 in seinem politischen Testament eingestehen, dass die »Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft« die Aufgabe einer künftigen »nationalsozialistischen Bewegung« sein werde.11
Mit dem Untergang des »Tausendjährigen Reichs« und dem Selbstmord seines »Führers« verschwand der Volksbegriff 1945 nicht aus der deutschen Sprache. Zwar gibt es zur Verwendung des Wortes in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine systematischen Untersuchungen, doch ist auffallend, dass selbst explizite Gegner des Nationalsozialismus nicht auf den Volksbegriff verzichteten. Bemerkenswert – und auf den ersten Blick überraschend – ist, dass das Wort gerade im sozialistischen deutschen Teilstaat prominent gebraucht wurde. »Volkskammer«, »Volkspolizei«, »Volkseigener Betrieb« sind nur einige Beispiele für die in der DDR etablierten Volkskomposita. In der Nutzung des Wortes Volk brachte die Staats- und Parteiführung wohl zuvorderst ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass nunmehr die »plebs« zur Macht gelangt sei. Damit knüpfte die SED an eine tradierte sozialistische Verwendungsweise des Begriffs an. Zudem schwangen darin der Verweis auf den »demos« und der Selbstanspruch, eine demokratische Republik zu sein, mit. Der Bezug auf das Volk ließ aber auch darüber hinausgehende Deutungen zu: Wendungen wie »Volk der Deutschen Demokratischen Republik« oder »Nationale Volksarmee« konnten durchaus ethnisch verstanden werden.
Zwar wurde der Volksbegriff in der Bundesrepublik nicht so prominent verwendet wie in der DDR, doch blieb auch hier das Wort in der politischen Sprache erhalten. In der ersten Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. September 1949 etwa nutzten sowohl Abgeordnete der CDU als auch der SPD den Terminus. Nicht selten wurde in den Reden das »deutsche Volk« als Opfer von Krieg und Nationalsozialismus dargestellt.12 Und auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fand das Wort wiederholt Eingang, etwa in der zentralen Bestimmung, wonach »alle Staatsgewalt […] vom Volke«13 ausgehe. Ähnlich wie schon in der Weimarer Reichsverfassung wurde der Begriff in der Bonner Konstitution nicht näher definiert. Jedoch bildete sich – im Gegensatz zu Weimar – in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik keine antipluralistische Mehrheitsmeinung heraus, der zufolge das Volk ein metaphysisches Wesen sei, über der Verfassung stehe und sich sein Wille nicht in Wahlergebnissen fassen lasse. Volk wurde in der Bundesrepublik stattdessen zumeist als pluralistischer »demos« begriffen. Dies mag mit der zunehmenden Akzeptanz des westlichen Demokratiemodells zusammenhängen. Hinzu trat aber wohl auch eine Veränderung des Sprachduktus. Die vormals häufig von Pathos und »existenziellen«14 Kategorien durchzogene Semantik kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend aus der Mode.
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