Ich lehnte mich zurück.
Nicht einmal der legendäre Kaffee von Mandy schmeckte mir im Moment noch. Meine Laune war auf dem Tiefpunkt.
"Wie lange ist die SILVER QUEEN noch bei Pier 62?", erkundigte sich Milo.
"Überhaupt nicht mehr", erwiderte Mr. McKee.
"Was?"
"Es gibt keinerlei Handhabe, die SILVER QUEEN länger aufzuhalten. Nicht die geringste! Alle Papiere sind in Ordnung, die Ladung ist in Ordnung und jede nur erdenkliche Vorschrift ist eingehalten worden. Ich hatte vor einer halben Stunde noch ein ziemlich unangenehmes Gespräch mit Staatsanwalt McDouglas. Die SILVER QUEEN läuft jetzt vermutlich gerade aus... Richtung Atlantik. Ein paar Stunden und sie hat die Hoheitsgewässer der USA endgültig verlassen..."
"Dagegen muss man doch etwas unternehmen können", meinte Milo aufgebracht.
"Und mit welcher Begründung bitteschön?", erwiderte Mr. McKee ruhig. "Die Platten waren nicht an Bord. Das müssen wir akzeptieren. Ansonsten kann man weder dem Kapitän, noch der Besatzung oder dem Reeder irgendeinen Vorwurf machen." Mr. McKee zuckte die Achseln. "Alles, was bleibt ist die Tatsache, dass diese Leila sehr wahrscheinlich mit William Hamid telefonierte, als dieser in New York war."
"Und die Aussage von Robert Brown...", murmelte ich.
"Richtig. Aber der war ja offenbar falsch informiert."
"Mr. McKee, gehen wir doch mal von der Annahme aus, dass dieser Mann, der sich Robert Brown nannte, ganz genau wusste, was er tat..."
"Alles Theorie, Jesse! Ich habe das Gefühl, dass Sie sich da in etwas verrennen."
"Eine Theorie, die uns vielleicht direkt zu den Platten führt. Mr. McKee, ich brauche Ihr Okay für eine Aktion, die auf den ersten Blick absurd erscheinen mag..."
Der Chef des FBI-Districts New York schüttelte den Kopf.
"Jesse, das Spiel ist aus! Vielleicht haben wir Glück und Leila geht doch dem Zoll ins Netz - was ich für nicht sehr wahrscheinlich halte."
*
Leila stand mit einem Fernrohr da und suchte den Horizont ab.
Das Meer war grau und sie wurde langsam ungeduldig. Dann entspannte sich ihr Gesicht, als sie das Schiff auftauchen sah. Sie vergewisserte sich noch einmal.
Es war die SILVER QUEEN.
Sie hatte die Lower Bay passiert und fuhr nun die Küste von Staten Island entlang.
"Alles in Ordnung?", fragte der Mann, der neben ihr stand.
Es handelte sich um Aziz Al-Tarik, den Mann, in dessen Haus sie zuletzt Unterschlupf gefunden hatte. Die Druckplatten hatte sie allerdings an einem anderen Ort versteckt. Eine gute Entscheidung, wie sich herausgestellt hatte, denn die schwere Kiste hätten sie auf ihrer überstürzten Flucht niemals mitnehmen können.
Aziz war breitschultrig und hatte den Reißverschluss seiner Lederjacke bis oben hin zugezogen. Der Wind vom Atlantik her schien ihm ziemlich zuzusetzen. Ein paar Meter entfernt lag ein großes Schlauchboot mit Außenborder. Die letzten anderthalb Stunden hatten sie beide damit zugebracht, das Boot aufzupumpen. An Bord befand sich eine massive, wasserdichte Metallkiste. Ihre Maße betrugen ein Meter mal ein Meter zwanzig. Sie war ziemlich schwer, aber die gewaltigen Luftkammern des Schlauchboots würden sie tragen.
Der Boden des Bootes bestand aus massiven Holzplatten, genau wie das Heck, an dem der Außenborder befestigt war.
Leila nahm das Fernglas herunter. "Hilf mir", sagte sie an den Mann gewandt. Sie gingen zum Boot.
"Kommen Sie gut in Bagdad an, Leila", sagte der Mann auf Arabisch. Er beherrschte die Sprache nicht mehr sonderlich gut.
Leila lächelte.
"Danke."
Er sah sie an. "Fragt sich nur, was jetzt aus mir wird", sagte Aziz Al-Tarik. "Die werden mich längst suchen..."
"Viel Glück, Aziz", sagte sie.
"Sie haben mir versprochen, dass Ihre Leute mir helfen würden."
"Sie werden dem FBI viel zu erklären haben", sagte sie. Ein nachdenklicher Zug erschien in ihrem Gesicht. Und plötzlich hatte sie eine Pistole in der Hand. Eine Automatik. Ganz plötzlich hatte sie die Waffe aus der Jackentasche gezogen.
Aziz erstarrte.
"Es tut mir leid", sagte sie. "Aber ich kann nicht riskieren, dass dieses Unternehmen doch noch gefährdet wird. Dafür habe ich zu schwer dafür gearbeitet."
"Aber..."
Er kam nicht mehr dazu weiterzusprechen. Pure Todesangst verschloss ihm die Kehle. Mit bleich gewordenem Gesicht wich er einen Schritt zurück, während sie den Schalldämpfer aus der anderen Jackentasche herausholte und ihn dann aufschraubte.
Aziz taumelte davon.
Zweimal kurz hintereinander ertönte ein Geräusch, das wie ein kräftiges Niesen klang. Der Wind verschluckte es beinahe.
Das Mündungsfeuer blitzte aus dem Schalldämpfer heraus.
Zuckend sackte Azizs Körper in sich zusammen und blieb dann reglos liegen.
"Sorry", murmelte sie.
Sie musste sich sehr anstrengen, um das Boot so weit ins Wasser zu schieben, dass es schwamm. Salzwasser umspülte ihre Knöchel und tränkte die Beine ihrer Jeans bis fast zum Knie.
Sie nahm all ihre Kraft zusammen. Und dann lag das Boot endlich nicht mehr auf Grund - trotz der schweren Ladung.
Sie hievte sich ins Boot und wurde dabei beinahe bis zu den Hüften nass. Mit einem Paddel stieß sie sich weiter ab und kämpfte dabei gegen die leichten Wellen. Sie durfte nicht riskieren, dass die Schraube des Außenborders sich in den Boden drehte.
Leila gewann ein paar Meter.
Dann zündete sie den Motor.
Das Boot machte einen Ruck. Die Spitze stieg empor und es brauste durch die Wellen. Direkt auf die SILVER QUEEN zu. Das sicherste Versteck war eines, das kurz zuvor durchsucht worden war. Und genau das traf auf die SILVER QUEEN zu. Hier würde der FBI jetzt die Druckplatten zu allerletzt suchen.
Der Wind wehte um ihre Ohren und riss an ihrem dunklen Haar.
Ein zufriedenes Lächeln stand auf ihrem Gesicht. Ich habe gesiegt, dachte sie. In den gesamten Vereinigten Staaten von Amerika würde es nicht einen einzigen Richter geben, der eine nochmalige Durchsuchung der SILVER QUEEN jetzt noch erlauben würde.
Sie atmete tief durch.
Ein Teil von ihr bedauerte, dass sie New York nun verlassen musste. Sie hatte sich an das Leben im Big Apple sehr gewöhnt.
Ein bisschen von dem, was sie in den zahllosen Rollen, die sie angenommen hatte, vorspielte, war an ihr haften geblieben.
Auch wenn es vielleicht nur Kleinigkeiten waren. Aber jetzt war es unmöglich für sie geworden, weiterhin auf amerikanischem Boden zu bleiben. Ihre Vorgesetzten in Bagdad sahen sie als verbrannt an. Und vermutlich hatten sie recht damit.
Wer weiß, dachte sie. Vielleicht kehre ich eines Tages zurück. In einer neuen Mission...
Die Minuten gingen dahin. Die grau emporragenden Wandungen der SILVER QUEEN schienen immer größer zu werden, je näher sich das kleine Boot diesem Ungetüm aus Stahl näherte.
Leila nahm ihr Funkgerät zur Hand.
"Hier Leila", sagte sie. "Ich bin noch einige hundert Meter von Ihnen entfernt. Sie müssten