Das Kind beantwortet die Identitätsfrage jetzt aber noch nicht inhaltlich. Noch will es sich nicht selbst inhaltlich bestimmen. Vielmehr geht es um das Urerlebnis, dass ich überhaupt ein Ich bin, und zwar ein anderes als alle anderen. – Die Identitätsfrage versinkt dann wieder. Was aber zurückbleibt, ist ein Spielen und Experimentieren mit dem Unterschied von Innen und Außen, von Ich und Welt. Mein Ich ist innen, die Welt ist außen. Man kann also Geheimnisse haben, kann lügen und sich verstellen. Darin bekräftigt sich und wird handhabbar das elementare Trennungserlebnis, das das Ich der Welt gegenüber hat.
Sodann setzt mit zwölf Jahren die inhaltliche Frage nach der eigenen Individualität mit einem Paukenschlag ein: Alles, was bisher vertraut war, nicht nur Eltern, Lehrer und familiäre Gewohnheiten, auch der eigene Körper, wird fremd. Nichts mehr ist selbstverständlich. Eine tiefe Kluft trennt auf einmal von allem, was bisher getragen hat, selbst von der eigenen Leiblichkeit. Wer bin ich also? Wer bin ich, wenn sich mein Ich offenbar nicht von meiner Familie, nicht von meinen Lehrern, nicht einmal von meinem Leib her bestimmt und trägt, so wie bisher? Mein Ich ist offenbar nur äußerlich und allenfalls in einer für die Vergangenheit gültigen Weise an Familie, Schule und Leib gebunden. Was kann also stattdessen und eigentlich meine Individualität werden?
Es ist charakteristisch, dass der junge Mensch diese Frage nicht aus der Vergangenheit beantworten will, sondern radikal aus der Zukunft. Das jetzt erst in sein eigenes Bewusstsein eintretende Ich sieht betont ab von der Vergangenheit – mein Elternhaus ist verstaubt und verknöchert, meine Schule ist muffig, und in meinem Leib bahnen sich ungeahnte Dinge an – und will sich ganz in die Zukunft hinein orientieren. Jetzt erst beginnt ein eigenes Schicksalswollen, und von nun an sucht der Mensch bewusst Schicksals- und Beziehungsgestaltung aus eigenem Vermögen. Vorher waren Schicksal und Beziehungen vorfindlich. Jetzt kann man sie wollen und – vor allem – nicht wollen. Bislang hat man mit den Kindern gespielt, die in der Nachbarschaft wohnten. Jetzt will man sich seine Freundschaften aussuchen. Bislang hat man weitgehend desinteressiert und tatenlos zugesehen, wenn die Eltern das Kinderzimmer renoviert und neu eingerichtet haben. Jetzt will man das selbst machen, jetzt hat man dazu eigene Vorstellungen. Bislang hat die Mutter mich eingekleidet, und mir war nur wichtig, ob es zweckmäßig war. Jetzt stelle ich mir meine Kleidung selbst zusammen.
Natürlich ist es aus der Sicht des Erwachsenen eher amüsant, manchmal nervenaufreibend, dass der junge Mensch seine Individualität nun über Kleidung und Bilder an der Wand finden will. Es ist eben ein Anfang, unbeholfen, aber deshalb nicht ungültig. Die vehemente Art, mit der sich der pubertierende Mensch oft gegen alles stellt, was Vergangenheit ist – und deren Repräsentanten sind in erster Linie die Eltern –, enthält einen richtigen Kern. Ich weiß zwar noch nicht genau, wer ich bin, aber ich weiß, dass ich nicht das bin, was bisher selbstverständlich so erschien, auch wenn es von meinen Eltern so geprägt worden war. Ich bin Zukunft.
So kann man die Pubertät als den eigentlichen Beginn der bewussten Biographie betrachten. Erste, unbeholfene, oft unrealistische Lebensentwürfe tauchen auf. Erste biographisch bedeutsame Entscheidungen werden getroffen – man möchte bald aus der Schule gehen, um Handwerker zu werden, man möchte den und den Vereinssport betreiben. Das Individuum fängt an, sein Leben selbst zu leben. »Fängt an« heißt, es ist wie beim Laufenlernen: Man fällt tausendmal hin, bevor man wirklich laufen kann. Aber anders kann man nicht laufen lernen. Der junge Mensch tut sicher viel Unbedachtes und Unausgegorenes, setzt sich Gefährdungen aus, radikalen Tendenzen, wechselt täglich seine jeweils absolut richtige Meinung. Aber anders kann der bewusste Griff nach dem eigenen Schicksal nicht ruhig und sicher werden.
In dieser Phase tauchen auch die Ideale auf. Der junge Mensch sucht Ideale – nicht als abstraktes Gedankengut und bloß Gepredigtes. Vielmehr hat er die Sehnsucht, dass es Menschen geben möge, die für sie angefeindet werden und schließlich mit ihnen obsiegen. Das Ich sucht sich in der Pubertät im Idealischen. Das äußerlich sperrig Auffallende ist oft nur das Geheimzeichen für etwas Idealisches. Die Lederstiefel stehen für Freiheit, der Lippenstift für Hingabebereitschaft, die Rockmusik für Gelassenheit im Sturm und der kurze Haarschnitt für Autonomie, zum Beispiel. – Es ist eine tiefe Tragik, dass der Erwachsene den Pubertierenden so wenig ernst nimmt. Eltern, Lehrer und die Tante aus dem Fränkischen sind nur entrüstet über das Aussehen des bis dahin so adretten Kindes. Und sie betrachten die Pubertät als eine Art vorübergehende Krankheitserscheinung. Danach ist, hoffentlich, alles wieder gut. Würde man ansprechen, bestätigen und aufgreifen, was der junge Mensch an Idealen sucht, wie er konkret-sinnlichen Anschluss daran sucht, wie er Schicksalsentwürfe ausprobiert, so könnte mancher biographische Umweg, manche Einengung des Lebenshorizonts, manche Klischeefixiertheit in den Lebensabläufen vermieden werden. Selbst der Erwachsene noch nimmt sich in der Erinnerung daran nicht ernst. Die eigene Pubertät wird teils verschämt, teils belustigt als eine Art verlängerte Faschingszeit angesehen. Dann erst wurde es ernst.
Das täuscht. Ernst war es oft schon vorher; ständigen Entwertungen und Anfeindungen ausgesetzt zu sein, wenn man gerade begonnen hatte, etwas zu entwickeln, von dem man selbst noch nicht weiß, worauf es hinausläuft. Es ist etwa so, als wollte man einem einjährigen Kind, das gerade laufen lernt, einreden, es sei eine spinnige Idee, laufen zu wollen. Es sollte dies besser unterlassen, und im übrigen sei es einfach lächerlich und ärgerlich, immer diese unbeholfenen Gehversuche mit ansehen zu müssen. Die Pubertät ist ein Beginn – und häufig schon ein Ende. Viele trauen sich später nicht mehr, eigenes zu wollen, Ideale zu suchen, die es zu leben lohnt.
Erst beim vierten Mal, in der Lebensmitte, wenn noch einmal die Frage auftaucht: »Wer bin ich eigentlich?« ergibt sich oft ein Rückgriff auf Pubertätsideale. Wie im Kapitel über die Lebensmitte beschrieben, stellt sich in dieser Phase die Identitätsfrage als nagender Zweifel ein: Ist das denn alles, was ich bisher erreicht habe? Soll darin mein Leben auch weiterhin bestehen? Bin ich schon das, was ich mir bisher an Besitz, Fähigkeiten und Einfluss erworben habe? Oder bin ich noch etwas grundsätzlich anderes?
Und wie in der Pubertät sieht auch jetzt diese Frage nach dem eigenen Ich betont ab von der Vergangenheit und sucht die Zukunft. Bis jetzt war ich der, der sich dies und jenes erworben, erarbeitet und erobert hat. Aber wer bin ich morgen? Was bin ich darüber hinaus? Das Ich beginnt jetzt, seine geistige Dimension zu suchen.
Und wieder ergibt sich die Ich-Frage aus einem Verlusterlebnis: Ein Riss ist eingetreten zwischen meinem innersten Ich und dem äußeren Kleid, das dieses Ich sich bisher geschaffen hat. Und eine Ahnung davon kommt auf, dass das eigentliche Wesen des Ich nicht seine irdisch-äußere Erscheinung ist, sondern die Sphäre des Übersich-hinaus-Gehens sucht.
Viermal also fragt das Ich nach sich selbst. Es fragt aus sich heraus – Identitätsfragen und -zweifel, die durch äußere Ereignisse angeregt sein können, kommen natürlich hinzu. Jedesmal geht dem ein Riss, ein Bruch im Verhältnis zur Welt voraus. Und jedesmal ist die Ich-Frage an die Zukunft gestellt. Das Ich hat Zukunftscharakter.
7
Der Doppelgänger I
Seine Entstehung
Die Substanz des Doppelgängers ist unbewusste Gewohnheit, die unbemerkt entsteht, die sich einschleicht und unbemerkt auswirkt. Diese Art der Gewohnheit wirkt sich immer einengend, verhärtend, festlegend aus. Das können wir aus Distanz, als Unbeteiligte oder hinterher so bemerken. Was wir selbst erleben, wenn solche Gewohnheiten in unserem Denken und Tun am Werk sind, ist Sicherheit und Selbstverständlichkeit. Es ist oft sehr schwer, beratend einem Menschen erkennbar zu machen, wie sehr er eingeengt und festgelegt ist von Gewohnheiten des Denkens, Fühlens oder Handelns, die ihm – wie man sagt – in Fleisch und Blut übergegangen sind.
Man sagt zu Recht: Die Gewohnheiten haben eine übergroße Neigung zur Verfestigung, zur Verhärtung, ja zum Erstarren. Es gibt bei jedem Menschen geradezu einen Leib aus Gewohnheiten. Er ist fast physisch. Man kann ihn in der Biographieberatung eigentlich nur anpacken, indem man Vorschläge macht, bestimmte Gewohnheiten vorübergehend, und sei es nur für zwei Wochen, zu ändern. Dann können Bewusstsein und Wille in eine Gewohnheit kommen, die sich vor Jahren eingeschlichen haben mag. Die bewusst und willentlich gesetzten Gewohnheiten befreien geradezu aus der Einengung durch die einschleichend