Ob die Lehre selbst erweitert, weiter entwickelt werden kann, scheint zunächst davon abzuhängen, ob noch einmal eine Geistesgröße vom Format Steiners auftaucht (und ob sie dann in Dornach eingelassen wird). Wir könnten das abwarten. Vielleicht würden wir sehr lange warten.
Oder wir setzen auf Dialog. Kunstrichtungen, Philosophien, wissenschaftliche Auffassungen wandeln sich durch – manchmal streitbare – Auseinandersetzung. Eine zementierte, zum Evangelium erklärte und verklärte Lehre wird sich nicht wandeln.
In allen Bezirken menschlichen Strebens gibt es Epochen, in denen man sich seiner Auffassungen gewiss ist. Im jeweiligen zeitgenössischen Dialog treten aber neue Gesichtspunkte auf, so dass eine neue Epoche heraufzieht. Dieser Wandel entwertet nicht die vorangegangenen Epochen. Im Gegenteil, sie waren notwendig, damit das menschliche Streben wieder einen Schritt weitergehen konnte.
Könntest Du, verehrte Anthroposophie, Dich als eine solche Phase im Geistes-, Kunst- und Wissenschaftsstreben sehen?
Vielleicht folgt auf die Phase der Weltanschauung eine Phase der Weltanhörung. Vielleicht wandelst Du Dich von einer wissenden zu einer suchenden und fragenden Initiative, suchend und fragend von einem geistigen Menschenbild aus.
Der Mensch will schon immer wissen, wo er herkommt und wo er hingeht. Was ist der Sinn des Lebens? Du hast dazu eine Menge beizutragen, aber vielleicht nicht etwas Endgültiges. Kann man, darf man Deine inneren, das heißt anthroposophischen Inhalte so öffnen, dass sie wandelbar sein können?
Ein Beispiel: Die Reinkarnationslehre (Steiner hat sie ja nicht erfunden, sie gilt als Selbstverständlichkeit in vielen Religionen, Epochen und Kulturen, nur in den monotheistischen nicht) würde geöffnet, wenn man sie nicht einfach nur glauben würde, sondern sie zunächst einmal als sinnstiftende Annahme ansehen würde. Denn der Reinkarnationsgedanke kann viele Phänomene der menschlichen Biographie erklären oder zumindest verständlicher machen. Er leuchtet ein. Dies begründet noch nicht seine Wahrheit, stiftet jedoch Sinn.
Um den Reinkarnationsgedanken als Instrument zum Verständnis biographischer Zusammenhänge einzusetzen, muss ich ihn nicht für absolut wahr halten und ich muss auch nicht Steiners Ausfaltung dieser Lehre für die einzig mögliche halten, auch wenn sie außerordentlich fruchtbar ist für ein Verstehen der Conditio Humana.
Unter dieser Auffassung einer Vorläufigkeit oder Offenheit der Lehre können wir über sie debattieren: Gäbe es alternative Erklärungen bestimmter biographischer Phänomene? Wo reicht der Reinkarnationsgedanke vielleicht nicht aus für das Verständnis menschlicher Gegebenheiten? Was gewinnt man durch Steiners Reinkarnationslehre? Was verliert man eventuell? Wie bringt man karmische Bedingtheiten mit dem freien Willen zusammen?
Ein Beispiel: Nehmen wir an, ich komme bei Ausführung der entsprechenden Meditationshinweise Steiners zu der Auffassung, dass ich in meinem letzten Leben Goethes Putzfrau war. Und dann? Welche Schlüsse soll ich daraus ziehen? Was nützt mir das für mein diesmaliges Leben? Könnten solche Erkenntnisse mich möglicherweise einschränken? Zum Beispiel: Muss ich jetzt sämtliche Werke Goethes lesen oder so?
Der Reinkarnationsgedanke kann aufs Glatteis vorschneller Behauptungen führen. Das spricht nicht gegen seine Wahrheit, aber auch nicht für sie, wohl aber dafür, dass er debattiert werden muss.
PS: Kann, darf ein Anthroposoph eigentlich seine Wiedergeburt verweigern (wenn ihm zum Beispiel sein Nachbar mächtig auf die Nerven geht und er auf keinen Fall noch einmal mit ihm zusammentreffen möchte)? In anderen Kulturen scheint das möglich zu sein: So hat der Dalai Lama mitgeteilt, dass er nicht mehr wiederkommen wird. Schöne Bescherung.
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