In unserem gewöhnlichen Bewusstseinszustand identifizieren wir uns mit unserem einzelnen individuellen Ego, und suchen nach Macht für die Ausweitung des Egos.
Von einem tiefer gehenden Standpunkt aus betrachtet sind jedoch alle Bemühungen des Egos unbewusst durch den Drang motiviert, das eigene wahre Selbst und seine Bewusstseinskräfte zu entdecken.
Latente Kräfte des Bewusstseins
Wir unterscheiden zwei Arten von latenten Kräften. Es gibt Kräfte in uns, die bisher unentwickelt und zum größten Teil unbekannt sind oder gar angezweifelt werden, wie Hellsichtigkeit, Hellhörigkeit, Telepathie und andere okkulte Kräfte, von denen im letzten Teil dieses Buches gesprochen wird. Andere Kräfte besitzen und benutzen wir schon, aber sie sind nur latent vorhanden und existieren in rudimentärer oder unentwickelter Form. Letztere haben scheinbar nichts Außergewöhnliches an sich, und wir betrachten sie nicht als „Kräfte“. Gedankenkraft, Imaginationskraft, Willenskraft, Konzentrationskraft, Intuition und andere Kräfte sind zum gegenwärtigen Zeitpunkt in den meisten Menschen völlig unterentwickelt im Vergleich zu dem, was sie in ihrem höchsten Potential sein könnten. Was wir in einem Genie erkennen, ist nur das Aufblühen von Kräften, die entweder unentwickelt oder vollkommen verborgen auch in uns schlummern. Wie die Mutter bemerkt: „In jedem von uns steckt ein Genie.“
Es besteht die Möglichkeit das eigene Potential der physischen Kräfte und Fähigkeiten, die den Körper betreffen, bis zu einem bemerkenswerten Grad zu entwickeln. Ein olympischer Athlet hat lediglich Fertigkeiten entwickelt, die in gewissem Maße in jedem Menschen angelegt sind. Die Mutter gibt Beispiele dafür, wie sogar unsere sensorischen Fähigkeiten wie Seh- und Hörvermögen bis zu einem übernatürlichen Grad gesteigert werden können und bemerkt: „Wir können unendlich viel mehr als das, was wir tatsächlich tun.“
Okkulte Kräfte
Wenn Menschen, besonders im Osten, an verborgene Kräfte denken, meinen sie damit oft okkulte Kräfte, wie vorher schon erwähnt. Im Westen und Osten existieren unterschiedliche Einstellungen gegenüber solchen Kräften. Im Westen, wo diese Kräfte allgemein als „übersinnliche Fähigkeiten“ bezeichnet werden, betrachtet eine Mehrzahl der Menschen sie mit Skeptizismus, und verbindet den Glauben daran mit Leichtgläubigkeit und Naivität. Immer mehr westliche Menschen jedoch halten die Fähigkeiten von medial begabten Menschen für glaubwürdig, die behaupten, Informationen über außersinnliche Wahrnehmung zu erlangen, auf Objekte und Personen aus der Ferne einzuwirken, mit unsichtbaren Mitteln heilen zu können usw. Trotz ihrer nicht erklärbaren Natur wurden diese Fähigkeiten immer wieder in zahlreichen Bereichen einschließlich der Medizin und Zahnheilkunde, Psychotherapie und Beratung, in der Polizeiarbeit, in Landwirtschaft, Archäologie und auf vielen anderen Gebieten angewandt.
Psychiater tendieren dazu, Personen, die anscheinend übersinnliche Kräfte besitzen als anormal, das heißt unter einer psychiatrischen Störung leidend, zu betrachten. Dr. Judith Orloff, Psychiaterin aus Los Angeles und Autorin des Buches: „Das Zweite Gesicht“ (Thomas Moore, 1997) schreibt, dass sie seit ihrem neunten Lebensjahr paranormale Fähigkeiten zeigte, aber jahrelang nicht darüber sprach, weil ihre Mutter und andere Personen in ihrem Umkreis kein Verständnis dafür aufbrachten, und ihr das Gefühl vermittelten, sie sei anormal. Erst als sie nach einer außerkörperlichen Erfahrung ein Institut für paranormale Erfahrungen aufsuchte, erfuhr sie, dass sie nicht psychiatrisch krank sei, sondern vielmehr über eine besondere Begabung verfüge. Entsprechend ihrer Schätzung, die vielleicht hauptsächlich auf ihrer eigenen Arbeit in der Psychiatrie basiert, sind etwa 25 % derjenigen, die psychiatrische Hilfe suchen, und bei denen eine Psychose diagnostiziert wird, in Wirklichkeit nicht psychotisch sondern medial veranlagt.
Im Osten sind die Menschen geneigt übernormale Kräfte, oder Siddhis“ wie sie in Indien genannt werden, als Zeichen der Entwicklung spiritueller Fähigkeiten anzuerkennen. Spirituelle Lehrer von hohem Rang jedoch haben okkulte Kräfte als untergeordnet, und der spirituellen Verwirklichung nicht zugehörig betrachtet. Ramakrishna bemerkte: „Jemand der nach okkulten Kräften strebt, ist wie einer, dem vom König ein Wunsch freigestellt wird, und der daraufhin um einen Kürbis bittet.“ Manche sind sogar der Ansicht, dass man auf dem spirituellen Weg nicht nur davon Abstand nehmen muss, nach spirituellen Kräften zu suchen, sondern auch davon, sie zu benützen, wenn man sie erlangt hat. Was diese Einstellung betrifft, schreibt Sri Aurobindo:
„Ich halte die Idee, dass Yogis bestimmte Kräfte nicht gebrauchen sollten (wie Geschehnisse aus der Ferne wahrzunehmen und in diese einzugreifen), für asketischen Aberglauben. Ich glaube, dass alle Yogis, die diese Kräfte haben, sie auch benützen, wann immer sie fühlen, dass sie innerlich dazu aufgefordert werden. Sie mögen sich zurückhalten, wenn sie denken, dass der Gebrauch in einem bestimmten Fall dem göttlichen Willen entgegensteht, oder wenn sie sehen, dass sie durch das Verhindern eines Übels die Tür für ein schlimmeres öffnen, oder aus irgendeinem anderen triftigen Grund, nicht jedoch wegen eines allgemeinen Verbots.
Was sich für jeden mit einer starken spirituellen Wahrnehmung jedoch verbietet, ist als Wundermacher aufzutreten, der außergewöhnliche Dinge um der Show willen ausführt, um berühmt zu werden oder zur materiellen Bereicherung oder aus Eitelkeit und Stolz.“ (Sri Aurobindo, Letters on Yoga, Centenary Library Band 22, S. 481)
Okkultismus im täglichen Leben
Sri Aurobindo definiert Okkultismus als
„Die Kenntnis der verborgenen Kräfte der Natur und ihr richtiger Gebrauch ... – besonders der Kräfte der subtil-physischen und supraphysischen Ebenen.“ (Sri Aurobindo,Letters on Yoga, Centenary Library Band 22, S. 75)
Wie die Mutter ausführt, praktiziert jeder Okkultismus ohne es zu wissen, denn jeder gebraucht die Kraft der Gedanken und der Vorstellung, welche tatsächlich okkulte oder verborgene Kräfte sind, die sichtbare Wirkungen auf einen selbst und andere hervorbringen. Die Wirkungen, die wir durch unser gewöhnliches Denken und unsere Vorstellungskraft erzeugen, sind dürftig, verglichen mit dem, was sie sein könnten, wenn ihre Kraft durch Schulung entwickelt werden würde. Tatsächlich nehmen die meisten Menschen nicht einmal die Resultate wahr, die durch Gedanken und Imagination in unserem Körper und in unserem äußeren Leben hervorgerufen werden. Deswegen werden diese Kräfte oft in einer Weise gehandhabt, die schädlich für uns selbst und andere ist. Ein wichtiger Schritt in der Entwicklung der Fähigkeiten unserer inneren Kräfte besteht darin, uns stärker bewusst zu machen, welche Kräfte wir schon besitzen und gebrauchen, und welche Wirkungen sie in unserem täglichen Leben hervorrufen, sodass wir lernen, mit ihnen bewusster und heilsamer umzugehen.
Innere und äußere Kräfte
Wir können Kraft aus äußeren Dingen oder aus unserem eigenen Wesen schöpfen. Die Kraft zur Bekämpfung von Krankheiten kann zum Beispiel vom Gebrauch äußerer Mittel wie Medikamente kommen oder von innen, aus der natürlichen Widerstandskraft unseres Körpers. Bis jetzt hat die Menschheit in ihrem Bemühen, immer mehr Macht zu erlangen, danach gestrebt, diese auf verschiedenen Gebieten, überwiegend durch äußere Mittel, wie technologische und wissenschaftliche Entwicklungen zu gewinnen. Der Entfaltung der Fähigkeiten in uns selbst wurde weit weniger Aufmerksamkeit gewidmet, sodass die innere Kraft an sich nicht nur hinter der äußeren zurückgeblieben, sondern in mancher Hinsicht sogar verkümmert ist.
Denn während in der Krankheitsbekämpfung mit äußeren Mitteln, wie stärkeren Arzneimitteln und verbesserter Technologie große Fortschritte erzielt wurden, gibt es eine zunehmende Verbreitung von Erkrankungen, die in Beziehung zum körpereigenen Immunsystem stehen, wie Krebs, Arthritis, AIDS und anderen, was auf eine Verschlechterung der körpereigenen Heilmechanismen hinweist.
Über die Verringerung der persönlichen Widerstandskraft als Folge der Zunahme der Technologie schreibt Joseph C. Pierce in seinem Buch, The Bond of Power (Dutton, 1981):
„Wir haben die technischen Erfindungen lange als Erweiterung unserer