Am 3. Mai 1945 rückten britische Truppen in die Hamburger Innenstadt ein. Wolfgang Borchert floh auf dem Weg in französische Gefangenschaft und kehrte am 10. Mai 1945 in seine zerstörte, hungernde und zermürbte Heimatstadt zurück. Der militärische Zusammenbruch Deutschlands und die bedingungslose Kapitulation am 8. Mai 1945 war auch die Befreiung vom Faschismus; das verlangte in einer chaotischen und materiell wie geistig zerrütteten Situation die Suche nach Neuem. Zusammengebrochene Industrieproduktion, zerstörte Hafenanlagen, Arbeitslosigkeit, verzweifelte Einwohner, Schwarzmarkt und deprimierte Kriegsheimkehrer bestimmten den Hamburger Alltag, der 1945/1946 zusätzlich unter einem kalten Nachkriegswinter litt.[6] Trotzdem war die Sehnsucht nach Kunst und Kultur groß; dies führte schnell zu einer lebendigen künstlerischen Szene.
In den vier Besatzungszonen, die durch die Alliierten beschlossen worden waren, wirkten auch kulturpolitisch unterschiedliche Konzeptionen. Hamburg spielte als größte und wichtigste Stadt in der britischen Besatzungszone eine hauptstädtische Rolle, wobei Kultur- und Verlagstraditionen, etwa Ernst Rowohlt, wirksam wurden. Nur langsam und keineswegs problemlos[7] begannen sich die ins Exil geflohenen Autoren durchzusetzen, ohne dass sie alle zurückkehrten. In die vorhandene Lücke traten junge Schriftsteller, die von der Weimarer Republik kaum etwas bewusst verfolgt, dafür aber die Verbrechen des Faschismus miterlebt hatten. Wolfgang Borchert hatte, wie seine ganze Generation, das bewusste Leben im Nationalsozialismus geführt – als die Nazis an die Macht kamen, war er 12 Jahre alt. Er hatte kaum andere Erfahrungen zur Verfügung, als der Krieg zu Ende war. Für ihn galt, wie für viele andere Künstler, Alternativen nur aus der Literatur zu kennen, auch aus der sogenannten und heftig umstrittenen „Inneren Emigration“, und sie dort auch suchten.
An der Gruppe 47, die schließlich zu einem Wortführer der neuen Literatur wurde, konnte Borchert nicht mehr teilnehmen, obwohl er eingeladen war. Sie führte ihre erste Tagung vom 5. bis 7. September 1947 am Bannwaldsee bei Füssen im Allgäu durch. Von den Voraussetzungen her entsprach Borchert der Gruppe und der jungen deutschen Schriftstellergeneration: Alfred Andersch hatte am 15. August 1946 in der Zeitschrift Der Ruf erklärt, diese Generation seien „Männer und Frauen zwischen 18 und 35 Jahren, getrennt von den Älteren durch ihre Nichtverantwortlichkeit für Hitler, von den Jüngeren durch das Front- und Gemeinschaftserlebnis, durch das ‚eingesetzte‘ Leben also“[8]. Borchert war ein Repräsentant dieser Jugend, die an einer Schuld beteiligt war, deren Voraussetzungen sie nicht geschaffen hatte. Insofern ist der Gegensatz zwischen dem Oberst und Beckmann in Borcherts Stück auch ein Generationskonflikt, in dem die junge Generation sich entlastet sehen konnte, hatte sie doch eine Aufgabe von der älteren übernommen, die sie selbst nicht gestellt hatte.
Zusammenbruch und Befreiung bedeuteten auch, Theater neu zu öffnen. Seit dem 1. September 1944 waren alle deutschen Theater zwangsweise geschlossen, die Bühnenangehörigen in die Kriegswirtschaft entlassen worden. Auch das Publikum war im Dritten Reich einseitig über Theaterentwicklungen informiert und inzwischen der Bühne entwöhnt worden.
Das Stück wird zur sogenannten „Heimkehrerliteratur“ gerechnet, die unmittelbar nach 1945 in den deutschen Besatzungszonen erschien. Auf den westlichen Bühnen wurde Borcherts Werk zudem „das Gegenstück zu Des Teufels General (…) Kriegsgeschichte[n] von unten, aus der Perspektive des Landsers, des Unteroffiziers Beckmann, gesehen.“[9]
Zur Heimkehrerliteratur zählen mehrere Dramen. Die Thematik reicht in den größeren Zusammenhang von Abrechnung mit dem Nationalsozialismus, mit Krieg und Verbrechen an der Zivilbevölkerung der von Deutschland überfallenen Völker. Das Heimkehrerthema ist dabei ein dominierendes Thema, das des Krieges ein anderes. So stehen die Heimkehrerfiguren von Fred Denger (eigentlich Alfred Denger, 1920–1983) und Annemarie Bostroem (geboren 1922) vor den gleichen Fragen wie Borcherts Beckmann: Wie findet man sein Zuhause wieder? Wer gibt die entscheidenden Antworten?
In Fred Dengers Wir heißen euch hoffen. Schauspiel um die heutige Jugend, uraufgeführt am 3. April 1946 im Deutschen Theater Berlin, sammelt der 22 Jahre alte Heimkehrer Veit in einer Ruine seinesgleichen und entwurzelte Jugendliche um sich, um anarchisch gegen die bürgerliche Gesellschaft vorzugehen. Veit erkennt den Irrweg, gibt das kriminelle Leben auf und hofft auf eine bessere Zukunft.
Annemarie Bostroems Die Kette fällt, uraufgeführt am 16. Oktober 1948 in Chemnitz, hat den 24-jährigen Heimkehrer Jacob Hambach zur Hauptfigur. Er ist ehemaliger Feldwebel und 1947 Chef einer Terrorgruppe, die den schonungslosen Krieg gegen alle Antifaschisten führen will. Er zweifelt letztlich am Sinn seiner Unternehmungen und stellt sich der Polizei.
In diesen Stücken, einschließlich dem Borcherts, wurden die verheerenden Auswirkungen des Dritten Reiches und des Krieges auf moralische Haltungen und Wertvorstellungen des Individuums gestaltet. Diese Werke, aber auch andere literarische Beispiele, etwa Heinrich Bölls Der Zug war pünktlich und Wanderer, kommst du nach Spa, beschrieben, wie durch den Faschismus die Hemmschwelle für Verbrechen auch bei gebildeten Bürgern bis auf den Nullpunkt gesunken war. Die Verurteilung des Krieges wurde eine Verurteilung seiner politischen Verursacher, ohne dass die Schriftsteller das gesellschaftliche Gesamtsystem infrage stellten, obwohl – Beckmann muss es feststellen – dieses System, das die Verbrechen verantwortete, befahl und durchführte, sich 1946 bereits wieder zu reproduzieren begann und die alten Kräfte, die für die seelische Zerstörung und Desillusionierung der Überlebenden verantwortlich waren, wieder wirkten. Dennoch drangen die Autoren zur Erkenntnis vor, dass mit dem Glauben an ein gemeinhin waltendes Schicksal, mit dem im Faschismus geschichtliches Bewusstsein verdrängt und ersetzt wurde, keine Antworten zu geben waren; sie suchten nach Antworten – wie Beckmann in Borcherts Stück.
Den Weg, aus der Literatur Verhaltensmöglichkeiten zu gewinnen, der besonders für ein Publikum gedacht war, das die klassischen Traditionen verdrängt oder aufgegeben hatte, ging Bertolt Brecht mit seinen Modellen konsequent zu Ende. Er entwickelte daraus eine Theorie, die durch „Nachahmbarkeit und Variabilität“[10] Publikum und Schauspielern eine Orientierung geben sollte, die aus der Tradition bezogen wurde (Antigonemodell 1948, Couragemodell 1949) und für die Gegenwart Verhaltensmöglichkeiten entwickelte, um „eine Staatsaktion von Ausmaß zu objektiver Darstellung zu bringen“[11]. Da die Vorlagen der Modelle im Bewusstsein des Publikums vorhanden waren – in diesem Fall durch Werke von Sophokles und Grimmelshausen – oder mindestens wieder abrufbar waren, konnten aktuelle Ereignisse darauf projiziert werden.
2.3 | Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken |
ZUSAMMENFASSUNG
Wolfgang Borchert schrieb eine überschaubare Zahl von Werken; sie bedienen das gleiche Thema der Generation ohne Abschied. Gestalten wie Beckmann aus Draußen vor der Tür und seine Fragen finden sich durchgehend in Borcherts Werk. Die Fragen nach Gott, dem Leben, dem Grauen des Krieges und seiner Überwindung durchziehen Borcherts Werk wie ein fortlaufendes Selbstzitat.
Vor Draußen vor der Tür schrieb Borchert drei weitere Stücke. Immer finden sich darin Bezüge zur Weltliteratur, oft zu Goethes Faust.
Die in ihrer Zahl überschaubaren Werke Borcherts bedienen das gleiche Thema: Beschrieben werden der Krieg, seine Opfer, seine Folgen sowie die Generation ohne Abschied, so der Titel einer Erzählung, in der sich inhaltliche Bezüge zu Draußen vor der Tür finden. Es wird ein Leben voller Stationen und Begegnungen beschrieben, in dem es nur diese „Begegnungen ohne Dauer“ (Rowohlt Tb S. 109), aber keinen Abschied gab; „ohne Glück, ohne Heimat und ohne Abschied“ (Rowohlt Tb S. 108), Smolensk und der verlorene Gott, „ein Mann und eine Frau“ (Rowohlt Tb S. 109) werden genannt.
Gestalten wie Beckmann aus Draußen vor der Tür und seine Fragen finden sich durchgehend in Borcherts Werk. Im Januar 1946 entstand die Erzählung Die Hundeblume, in der nach Gott gefragt und nach einer geöffneten Tür gesucht wird. Ihr ging die Erzählung Die Blume[12] (1941) voraus, in der ebenfalls die Frage gestellt wurde: „(…) wo ist der Gott?“. Die