Franz kam auch in den nächsten Tagen nicht, Johannes hatte ihn also richtig eingeschätzt. Schade nur, daß sein Erzfeind nicht der einzige Parteigenosse in Kleeberg war. Sicher, damals bei der ersten Wahl waren es nur 19 Leute gewesen, die ihre Stimme der NSDAP gegeben hatten, was, davon war Johannes überzeugt, den Fanatiker Vollmer und die Gesellen, die ihn umgaben wie Fliegen die Kuhscheiße, sicher bis heute ärgerte.
Mittlerweile waren aber leider auch im Dorf viele organisiert, und Johannnes fand manchmal, daß es gar nicht schlecht war, daß sie die Wahlen abgeschafft hatten. Nicht daß er glaubte, die Kleeberger wären heute in ihrer Mehrzahl auf die Nazis hereingefallen, aber einige mehr als damals wären es wohl doch gewesen, die ihnen ihre Stimme gegeben hätten. Kein Wunder, entschuldigte ihr Bürgermeister diese Leute gleich trotzig, wenn man auch nichts anderes mehr hörte!
Besonders ärgerte es ihn, daß sie schon die Kinder und Jugendlichen einzuwickeln versuchten: Deutsches Jungvolk für die 10 bis 14jährigen, die richtige Hitler-Jugend für die 14 bis 18jährigen Jungen, für Mädchen gab es heute, wenn sie zwischen 10 und 14 Jahren alt waren, die Jungmädel und danach den »Bund Deutscher Mädel«. Johannes hörte es gar nicht gerne, wenn sein eigener Sohn mit sprühender Energie von seinen Erlebnissen aus den Gruppenstunden der HJ erzählte. Die Tochter war da anders, natürlich weil sie viel älter, fast schon eine junge Frau war, aber auch wegen ihrer Frömmigkeit. »Die ist katholischer als der Papst«, hatten Johannes und Agnes schon ein paarmal zueinander gesagt, als sie Irmgard wieder und wieder in die Kirche laufen sahen, und wäre ihnen dann nicht stets der junge Kaplan eingefallen, der immer diese Messen zelebrierte, an denen so auffallend viele junge Mädchen teilnahmen, dann hätten sie fast glauben mögen, was die Gertrud aus der Nachbarschaft immer prophezeite: »Die Irmgard, die geht einmal ins Kloster!«
Durch die Kirche, die natürlich nicht nur für Kleeberg da war, hatte das Mädchen aber vor allem den Vorteil, daß es viel mit Leuten aus den anderen Gemeinden zusammenkam und vieles, was dort vorging, eher wußte als ihre Eltern. »Sie haben dem Jupp, ihr wißt doch, den, der nach Rabenbach geheiratet hat, ein Schild um den Hals gehängt«, kam sie Tage, nachdem man glaubte, mit Franz sämtliche Pgs der Region niedergerungen zu haben, in die Stube gekeucht. »Natürlich kenne ich den Jupp«, sagte Agnes, »ein netter Junge, der uns als Kind schon oft auf dem Feld geholfen hat.«
»Ja, und genau dem Jupp haben sie ein Schild umgehängt. Und darauf steht: Ich bin ein Lump!«
»Jupp? Was soll der denn gemacht haben?« Johannes war noch nicht bereit, seiner Tochter zu glauben. »»Heil Moskau!« hat er gerufen, mit erhobener Faust, zwar im Suff, aber das ist denen doch egal!« Jetzt erinnerte sich Johannes wieder an so manches. Zum Beispiel, daran, daß Jupp damals, im Jahr, bevor der Österreicher an der Macht war, 1932, als die vielen Wahlen waren, Kundgebungen der KPD organisiert hatte. Kundgebungen, die auch in Kleeberg stattgefunden hatten und natürlich im schroffen Gegensatz zu denen gestanden hatten, die auch die Nazis bereits hier abhielten: wenigstens von den Ideen her waren sie unterschiedlich gewesen. Das Auftreten hatte Johannes an beiden nicht gemocht und sich wieder einmal bestärkt in seiner Meinung gesehen, daß man seinen Kopf niemals einer Partei verkaufen durfte.
Jupp war aber ein cleverer Bursche gewesen, der hatte sich ausgekannt, und wenn Johannes Zeit und Lust gehabt hätte, sich mit ihm anzulegen, er wäre ganz schön ins Schwitzen gekommen. Denn was dieser Jupp sagte, das hatte alles Hand und Fuß, er war sich seiner Sache völlig sicher, und Johannes war darum klar, daß er sein »Heil Moskau!« niemals bereuen würde und vielleicht sogar froh war für den Suff, der ihm endlich erlaubt hatte, es in Richtung der richtigen Adresse auszurufen. Denn der junge Starrkopf hatte ganz einfach damit rechnen müssen, daß sich in der Gaststätte, in der er sich mit einigen Gleichgesinnten getroffen hatte, auch solche befanden, die den Ruf an Vollmer weiterleiten würden.
»Wo ist er jetzt? Was machen sie mit ihm?« fragte Johannes seine Tochter. »Vollmer läßt ihn von SA-Männern durch alle Ortschaften der Ortsgruppe führen! In Rabenbach waren sie schon, nachher werden sie auch zu uns kommen!«
»So ein Lump!« empörte sich Johannes, »nicht Jupp, sondern Vollmer hätte man das Schild umhängen sollen!«
Was er da gesagt hatte, schien ihm zu gefallen, denn er wiederholte es noch mehrere Male, zu Hause, bei Nachbarn, die mittlerweile auch von der Sache erfahren hatten, und, sonst wäre er nicht Johannes gewesen, natürlich auch bei denen, die sich neugierig um den jungen Mann scharten, dem man tatsächlich ein Schild vor die Brust gehängt hatte mit der niederträchtigen, sorgfältig in großen Buchstaben gemalten Aufschrift, die allerdings so gar nicht zu dem hocherhobenen Haupt und dem stolzen Blick passen wollte, mit dem sein Träger die für Vollmers Geschmack viel zu kleine Menschenmenge musterte, die ihn umgab.
Johannes regte sich an diesem Tag mächtig auf, und er beschloß, dem Ortsgruppenleiter einmal so richtig die Meinung zu sagen. Agnes, die nicht weniger erregt, aber wie stets mehr beherrscht war, gelang es nur schwer, ihn zu beruhigen. »Sie werden ihm schon nichts tun!« und: »Denk doch auch mal an deine Familie«, redete sie immer wieder auf ihn ein und glaubte damit beinahe schon Erfolg zu haben, als nur Stunden später plötzlich ein Pg vor dem Haus auftauchte, den sie gleich als einen von Vollmers Wachhunden erkannte: »Sind Sie Frau Zimmermann?« fragte er sie und wartete nicht einmal ihr Nicken ab: »Dann richten Sie ihrem Mann aus, er möge zum Ortsgruppenleiter kommen. Morgen abend, 20.00 Uhr.« Mit einem schmissigen »Heil Hitler!« drehte er sich auch schon auf seinem Absatz herum und eilte von dannen.
Nun war es also soweit. Johannes wurde für seinen Dickschädel zur Rechenschaft gezogen: sie hatten Vollmer angetragen, was er gesagt hatte. Wahrscheinlich würde er verhaftet werden und sie mit den Kindern so, wie er es immer von seiner Mutter erzählt hatte, alleine dastehen. Agnes hätte die Nachricht am liebsten ihrem Mann verschwiegen, doch wußte sie, daß sie das nicht tun durfte. Vollmer würde die Angelegenheit niemals auf sich beruhen lassen, und Johannes nähme es ihr garantiert furchtbar übel, wenn sie für seine Person auch nur den Verdacht von Feigheit aufkommen ließe. Als sie ihm dann von der Vorladung berichtete, reagierte er selbstverständlich genau so, wie sie es erwartet hatte: »Na wunderbar, da kann ich ihm ja doch noch ins Gesicht sagen, was ich von ihm halte! Wurde auch höchste Zeit!«
»Bitte Johannes, reiß dich zusammen, der Vollmer sitzt am längeren Hebel!« flehte Agnes geradezu. »Das werden wir schon noch sehen«, brummte ihr Mann nur grimmig, wobei es ihm allmählich durchaus dämmerte, daß er nun vielleicht doch nicht mehr anders konnte, als die Dienste von Gregors Bruder in Anspruch zu nehmen. Gregor war nämlich ein netter Mensch, der in einem kleinen Städtchen, Hadamar, in der Nähe von Limburg wohnte; mit ihm konnte man wunderbar auf die Nazis schimpfen, und schließlich war er sein Cousin: letzteres war sein Bruder zwar auch, aber im Gegensatz zu Gregor war er ein gestandener Nazi, der es in dieser Gegend bis zum Ortsgruppenleiter gebracht hatte. Wohl nur aus der Position heraus war es ihm sogar möglich gewesen, die Freundschaft von Kreisleiter Schulz zu erwerben, und die, so betonte Gregor immer wieder, konnte man im Ernstfall leicht ausnutzen, denn sein Bruder war für ihn ein viel zu großer Wichtigtuer, als daß er sich eine Gelegenheit entgehen lassen würde, der Familie zu beweisen, was für ein einflußreicher Herr aus ihm geworden war.
Bevor er diese Beziehung in Anspruch nahm, wollte Johannes aber erst selbst ein ernstes Wort mit Vollmer reden – vielleicht war die Hilfe Gregors dann gar nicht mehr nötig. Er überlegte sich genau, was er sagen würde: »Herr Ortsgruppenleiter, wenn Sie meinen, daß man so mit Menschen umspringen darf, wie Sie das tun, dann muß ich diese Meinung ja nicht unbedingt teilen«, – dieser Satz gefiel ihm besonders gut, und er hatte auch lange suchen müssen, bis er die richtige Formulierung fand. Nicht nur über das, was sie mit Jupp gemacht hatten, würde er sich beschweren, oh nein, noch eine ganze Reihe von anderen Dingen würde er zur Sprache bringen, und wenn ihm dann noch Luft blieb, wollte er vielleicht auch die lächerlichen Intrigen von Franz aufs Tapet bringen.
Es kam jedoch alles ganz anders. Am nächsten Abend, Johannes war bereits dabei, die Karbidlampe seines Fahrrads zu füllen, um für die nächtliche Fahrt gerüstet zu sein, da kam Wilhelm zu ihm, der treue Wilhelm von nebenan, der zu den Leuten gehörte, die Johannes immer dann aufsuchte, wenn er einmal so richtig Dampf ablassen mußte: bei denen er nicht jedes Wort auf die Goldwaage