Er stand vor dem Leutnant und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Die beiden Soldaten, die das Mädchen gerade wieder hatten packen wollen, starrten den Alcalden an. Keiner achtete in diesem Moment auf Aina.
Einer der beiden Soldaten, die Aina bisher festgehalten hatten, lief los, um die Folterknechte zu holen. Aina wußte, daß ihr nur noch wenige Augenblicke blieben.
Sie warf sich herum und rammte dem neben ihr stehenden Soldaten ihren Ellenbogen in den Leib. Gleichzeitig riß sie ihm das dolchartige Messer aus dem Gürtel, das er bei sich getragen hatte.
Der Soldat schrie auf, aber noch im Fallen packte er Aina und zog ihr die Beine unter dem Körper weg.
Die Indianerin stürzte, die Hand, in der sie das Messer hielt, zuckte hoch. Die Klinge blitzte im Schein der Kerzen, die das Arbeitszimmer des Alcalden erhellten. Dann fuhr die Klinge dem Soldaten in die Brust,
Aina sprang auf. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie der Teniente auf sie zustürzte, und geschickt wich sie zur Seite aus. Abermals schnellte ihre Rechte hoch, und dann brüllte der Alcalde plötzlich auf.
Das Messer flog auf ihn zu, die spitze Klinge bohrte sich durch den Stoff seines leichten Gewandes in seine Brust.
Der Alcalde taumelte, seine dicken Finger fuhren durch die Luft und suchten nach einem Halt. Er sah noch, wie die Indianerin auf das Fenster hinter seinem Armstuhl zusprang, hörte noch, wie die Scheibe splitternd unter dem Anprall ihres Körpers zerbarst. Dann wurde ihm schwarz vor Augen, und er brach zusammen.
Auf seiner Brust breitete sich rasch ein roter Fleck aus, der schon innerhalb weniger Sekunden die ganze linke Seite seines Gewandes ausfüllte.
Teniente Morales stand wie erstarrt. Das alles war so schnell gegangen, daß er seinen Augen und Sinnen einfach nicht traute.
Er starrte seinen Soldaten an, den die Indianerin niedergestochen hatte, und er wußte sofort, daß diesem Mann nicht mehr zu helfen war. Dann war er mit einem Sprung bei dem Alcalden, beugte sich zu ihm hinunter und drehte ihn vorsichtig auf den Rücken.
Der Alcalde atmete noch, aber er verlor viel Blut.
Teniente Morales richtete sich, ruckartig auf.
„Überfall!“ brüllte er. „Hierher! Einen Arzt, die Indianerin hat den Alcalden ...“
Schritte wurden laut. Der Soldat und die beiden Folterknechte, die Santana hatte rufen lassen, stürzten herein.
Leutnant Morales ließ ihnen keine Zeit zu irgendwelchen überflüssigen Fragen.
„Packt mit an!“ befahl er. „Wir müssen den Alcalden in sein Schlafgemach bringen. Und du“, er wandte sich an den entsetzt auf seinen toten Kameraden blickenden Soldaten, „schaffst den Arzt zur Stelle. Beeil dich! Gib Alarm, die Wachen sollen das Mädchen einfangen! Los, ab!“
Der Soldat stürzte davon, während der Teniente und die beiden Folterknechte den bewußtlosen Alcalden in sein Schlafgemach trugen.
Aina taumelte hoch. Sie wußte, daß sie keine Zeit verlieren durfte, denn die Spanier würden sie erbarmungslos jagen, weil sie einen Soldaten getötet hatte.
Glücklicherweise hatte das Arbeitszimmer des Alcalden zu ebener Erde gelegen, der Sturz aus dem Fenster hatte ihr nichts getan. Lediglich an den Händen und Armen blutete sie aus einigen Schnittwunden, die ihr die splitternde Scheibe gerissen hatte.
Die Indianerin lief zum Hafen hinunter. Aina wußte ganz genau, daß sie auf der Halbinsel, auf Culebra, nicht bleiben konnte, ohne ihren ganzen Stamm in Gefahr zu bringen. Man würde sie suchen, überall, Aber es gab eine kleine Insel und auf dieser Insel ein ganzes System von Höhlen – die von den Spaniern so heiß gesuchte Goldmine der Nicaraos. Eine der Goldminen – die größte. Dort konnte sie sich verstecken, und dort würde man sie auch niemals finden. Außerdem hatte die Sache noch einen weiteren Vorteil für Aina. Wenn ihr Vater erfuhr, was sich bei dem Alcalden ereignet hatte, dann würde er wissen, wohin Aina geflohen war.
Aina überlegte das alles, während sie keuchend zum Hafen lief. Sie brauchte ein Boot, koste es, was es wolle! Ohne Boot war sie verloren.
Sie erinnerte sich, daß seit dem heimtückischen Überfall auf die Frauen und Mädchen ihres Volkes während des Markttages noch etliche Auslegerboote im Hafen liegen mußten. Die Spanier hatten sie beschlagnahmt, trotz des Protestes ihres Vaters. Die Frage war nur, wie sie an eins dieser Boote gelangen sollte.
Ich muß schnell sein, viel schneller als die verfluchten Gringos! dachte sie. Sie konnte sich genau vorstellen, was im Palazzo des Alcalden jetzt geschah, daß man die Wachen alarmieren würde, daß die Soldaten zuerst am Hafen nach ihr suchen und alles aufbieten würden, um sie wieder einzufangen. Was dann jedoch auf sie wartete, darüber gab sich Aina keinen Illusionen hin.
Sie beschleunigte ihren Lauf. Ihr Puls flog, das Herz schlug ihr bis zum Hals. Als sie die engen Gassen des kleinen Ortes auf der Halbinsel verließ und bereits das dunkle Wasser des Hafens vor sich sah, hörte sie die Trompeter der Spanier Alarm blasen.
Stimmen drangen undeutlich an ihre scharfen Ohren, dann erschollen Kommandos.
Aina warf sich in einen der dunklen Torbögen, die zu den letzten Häusern Culebras gehörten. Erst jetzt bemerkte sie, daß sie immer noch splitternackt war.
Aina war es gleichgültig, Sie hatte nur ein Ziel: zu überleben und Rache zu nehmen an diesem fetten Spanier, der sie blutig geschlagen hatte. Sie, Aina, die Tochter des Häuptlings der Nicaraos.
Aina lauschte. Erst undeutlich, dann aber mit jeder Sekunde stärker, vernahm sie die polternden Schritte, mit denen die Soldaten vom Palazzo heranstürmten.
Sie überlegte fieberhaft. Nein, es blieb nur eine einzige Möglichkeit, sie mußte es einfach riskieren!
Die Indianerin sprang auf. Die kurze Pause hatte sie erfrischt. Ihr biegsamer, junger Körper schnellte über die Gasse und verschwand sogleich im Dunkel der Nacht.
Aina wußte genau, wo sich die Boote befanden, und sie wußte auch, daß bei ihnen einer der Soldaten Wache hielt.
Sie brauchte nur Minuten, um vom Rand des Ortes zum Liegeplatz der Boote zu gelangen. Sie sah den Wachsoldaten schon von weitem im Licht einer blakenden Öllaterne, die an einem der Holzpfähle hing.
Lautlos glitt sie weiter. Ihre nackten Sohlen verursachten kein Geräusch auf dem Kopfsteinpflaster, das die Spanier für ihre schweren Pferdefuhrwerke angelegt hatten.
Sie erreichte einen Bretterstapel, stoppte, duckte sich und horchte auf das Gebrüll der Soldaten, die nun schon bedenklich nahe waren.
Ohne zu überlegen, schnellte sie sich vorwärts und sprang den Soldanten an, der sich gerade wegen des Gebrülls und der Rufe seiner Kameraden umgedreht hatte und ihr auf diese Weise den Rücken zukehrte. Sie tat es mit solcher Wucht, daß der Wachsoldat vornüberkippte, seine Muskete fallen ließ und vor Schreck einen lauten Schrei ausstieß. Dann warf er sich jedoch herum und wollte nach seiner Muskete greifen. Aber Aina war schneller. Sie packte die Waffe am Lauf, riß sie hoch und schmetterte sie dem Soldaten auf den Schädel. Der Mann sackte zusammen, sein Körper zuckte noch ein paarmal, dann lag er still.
Aina tastete ihn blitzschnell ab, und sie fand, wonach sie suchte. Mit einem Ruck entriß sie ihm das dolchartige Messer, das in seinem Gürtel steckte. Sie sprang auf und jagte auf den Steg hinaus, an dem die Auslegerboote lagen.
Sie warf sich in das letzte von ihnen, durchtrennte blitzschnell die Leinen, die es am Steg hielten, stieß sich ab und griff sofort nach dem Paddel, das im Boot lag.
Von Land her wehte eine starke Brise, erste Regentropfen fielen. Aina hockte im Heck des Auslegerbootes und paddelte um ihr Leben. Sie wagte es nicht, mit dem Setzen des Dreiecksegels Zeit zu verlieren. Sie kannte die Reichweite der spanischen Musketen nur zu genau.
Das wüste Gebrüll am Ufer ließ das Indianermädchen zusammenzucken. Ein paar