Von seinem sechsjährigen Enkel keine Spur. Sicher hatte er sich wieder auf dem Heuboden im Stall versteckt. Das Beste, was er tun konnte, um seinem besoffenen Vater aus dem Weg zu gehen.
Der alte Mann ging zurück in den Stall. »Hallo, mein Junge, hier ist Opa«, sagte er, als er die Leiter hinaufstieg. Er achtete darauf, wohin er trat, der Boden war an vielen Stellen morsch. Im Bodenraum stand Gerümpel, unter anderem ein alter wackeliger Hörnstuhl. Darin saß sein Enkel und lächelte ihn an. Durch ein Loch im Dach fiel ein wenig Licht auf ein aufgeschlagenes Buch, das der kleine Junge in der Hand hielt. Ein Buch von seiner Mutter.
»Opa, wann kommt Mama zurück?«
Der alte Mann nahm seine Taschenuhr und einen kleinen Schlüssel in die Hand. Er sah seinen Enkel bittend an. »Ziehst du deinem Opa noch einmal die Uhr auf?« Das war ein Ritual zwischen den beiden. Meistens benutzte er es, um von einer Sache abzulenken.
Während sein Enkel den Deckel der Taschenuhr öffnete und den kleinen Schlüssel in die Aufzugsöffnung steckte, strich sein Großvater ihm übers Haar. »Die Taschenuhr ist von meinem Vater und später«, er räusperte sich, damit seine Stimme den traurigen Klang verlor, »später wird sie einmal dir gehören. Hast du mitgezählt? Nur siebenmal den Schlüssel rum, sonst wird die Feder krumm.« Sie lachten immer an dieser Stelle. Sein Enkel lächelte ihn an und gab ihm die Uhr und den kleinen Schlüssel zurück.
»Opa, die anderen Kinder sagen, dass du ein Wilderer bist.«
»Wir armen Leute müssen doch auch leben. Der Dollart und die Tiere gehören niemandem und deshalb nehme ich für uns einen kleinen Teil.« Dieses Thema behagte dem älteren Herrn nicht, wieder Zeit für eine Ablenkung. »Stell dir vor, was ich heute im Dollart gefunden habe, mien Jung?«
»Opa, was hast du denn gefunden?«
»Ja, mien Jung, ich glaube, ich habe den Kirchturm von Torum gefunden! Dieses sagenhafte Dorf, das damals versunken ist, ich hab dir doch davon erzählt.«
Der Junge klappte das Buch zu und sah ihn erwartungsvoll an.
»Also, ich lauf durch das Watt und plötzlich spüre ich unter meinem Fuß einen Stein. Ich bück mich und tatsächlich ist es nicht nur ein Stein, sondern der Rest einer Mauer aus Backsteinen! Nicht so mickrige, wie wir sie jetzt haben – ganz große Steine wie die, aus denen man früher die alten Kirchen und Klöster baute. Leider hatte ich nichts zum Graben dabei. Aber morgen soll es wieder Nebel geben und dann geht dein Opa noch mal los. Ich finde bestimmt einen Schatz und dann bauen wir hier alles wieder auf.«
»Kommt Mama dann zurück?«
Der nächste Tag, im Dollart
Der Dollart: circa 121 Quadratkilometer in der Fläche (elf Kilometer Nord/Süd, elf Kilometer Ost/West). Bei Niedrigwasser fallen 70-80 % des Dollarts trocken. Die Grenze zwischen den Niederlanden und Deutschland verläuft durch den Dollart. Die deutsche Seite beginnt bei Pogum und endet an der Grenze bei Nieuw Staatenzijl (Richtung Nord-Süd). Ungefähr drei Kilometer von der Landecke Pogum entfernt liegt die kleine Bohrinsel Dyksterhusen (siehe Karte Nr. 1). Auf dieser künstlichen Insel wurde früher nach Gas gebohrt. Genau genommen handelt es sich um eine Halbinsel, weil eine kurze Straße die Insel mit dem Festland verbindet. Im Norden, von der Bohrinsel aus gesehen, liegen der Geisedamm und die Ortschaft Pogum, im Süden die Wattflächen des Kanalpolders bis zur niederländischen Grenze.
Die beiden Jäger waren auf der Pirsch. Aber diesmal nicht nach Gänsen oder Enten, nein: nach diesem verfluchten Wilderer. Auf der Bohrinsel stellten sie den Wagen ab. Sie zogen ihre Gummistiefel an, überprüften ihre Waffen und überlegten, wie sie vorgehen wollten.
Gestern hatten sie wieder Schüsse gehört. Der Nebel war ideal für den Wilderer. In dieser weitsichtigen Landschaft hatte er sonst keine Chance, unentdeckt zu bleiben. Der Dollart war groß und jetzt mussten sie auf ihr Glück setzen, um den Mann zu erwischen. Sie waren sich einig, dass sie getrennte Wege gehen wollten. Ein Jäger lief in nördliche, der andere in südliche Richtung. Schon nach kurzer Zeit verloren sie sich im Nebel aus den Augen.
Im ehemaligen Kuhstall des alten Arbeiterhauses hatte der alte Mann seinen langen Mantel angezogen und darunter sein Gewehr versteckt. Auf dem Weg zum Deich war ihm sein Sohn nachgelaufen und es war zu einem heftigen Streit gekommen.
»Dann geh doch«, hatte sein Sohn ihm hinterhergeschrien, »eines Tages kommt du nicht zurück. Entweder der Jagdaufseher erwischt dich, oder du fällst in einen Priel und ersäufst!«
Sein Sohn hatte es nötig, ihn zu beschuldigen. Dieser Althippie. Es blieb ihm doch nichts anderes übrig, als zu wildern.
Nun stand er auf dem Deich und sah sich um. Links lag die Bohrinsel Dyksterhusen verborgen durch die Nebelfelder. Rechts der Geisedamm. Dieser lange Steindamm trennte die Ems vom Dollart. Von Pogum aus verlief der Damm in westliche Richtung. Am westlichen Ende liefen Dollart und Ems wieder zusammen.
Den Geisedamm konnte er ebenfalls im Nebel nicht sehen. Der Nebel war für ihn ideal. Er lief den Deich hinab, kletterte über einen Weidezaun und überquerte die Salzwiesen. Als sie in das Watt des Dollarts übergingen, vermischten sich die Geräusche seiner Schritte mit den Nebelsignalen von Schiffen auf der Ems. Die Schreie der Vögel klangen seltsam gedämpft und die kalten weißen Schwaden berührten sein Gesicht so sanft und eisig wie Geisterhände. Auch bei diesem Wetter war der Dollart wunderschön. Es war, als sei er alleine auf der Welt, eingehüllt von Wolken in seinem eigenen Kosmos.
Aber die düsteren Gedanken holten ihn ein. Der Streit mit seinem Sohn ging ihm nicht aus dem Sinn. Das beklemmende Gefühl konnte er nicht abschütteln. Er konzentrierte sich auf sein Ziel, die Stelle im Watt, wo er die Mauerreste mit den besonderen Steinen gefunden hatte. Sie lag in Richtung der Bohrinsel, im Süden, von seinem Standort aus gesehen. Mit etwas Glück konnte er ein paar Enten schießen, bevor er die Mauerreste erreichte. Den Spaten und den Karabiner hatte er über seine Schulter gelegt. Der Nebel dämpfte seine Schritte und alle Geräusche. Ideale Bedingungen.
Plötzlich hörte er das Schnattern von Enten. Lautlos steckte er den Spaten ins Watt, legte das Gewehr auf den Spatengriff und entsicherte die Waffe. Der Zeigefinger suchte den Druckpunkt des Abzugs. Der Nebelvorhang riss für einen Moment auf und gab die Sicht auf mehrere Enten frei. Der Schuss traf die Ente am Boden. Kurz darauf hatte er wieder Glück, diesmal war es eine schöne fette Gans. Er hängte sich sein Gewehr um, denn für heute reichte es. Seine Jagdbeute in der linken, den Spaten in der rechten Hand marschierte er weiter durch das einsame Watt.
Endlich hatte er die Stelle mit den Steinen gefunden. Das Gewehr konnte er nirgends ablegen, also blieb es, wo es war. Die Jagdbeute legte er neben sich.
Der Spaten drang leicht in den Schlick ein.
Einer der Jäger hatte die Schüsse gehört und beschleunigte seine Schritte. Der Nebel hüllte ihn ein und er war froh, dass er den Kompass mitgenommen hatte. Ab und zu hörte er ein rhythmisch klatschendes Geräusch, waren das Schritte oder grub da jemand?
Dann war wieder alles still. Zwecklos, der Nebel war zu dicht und die Geräusche hatten aufgehört. So konnte er den Wilderer nicht finden.
Der alte Mann konnte kaum glauben, was er gerade ausgegraben hatte – eine kleine Glocke. Teufel auch, wenn die nicht aus Gold war! Ob sie noch funktionierte? Vorsichtig entfernte er den Schlick aus dem Gehäuse und bewegte die Glocke hin und her. Kling-Klong … Das schönste Geräusch, das er je gehört hatte.
Der Jäger hatte sich schon umgedreht und wollte die Suche aufgeben, als er plötzlich das Klingeln einer Glocke hörte. Da, schon wieder. Kling-Klong … Dieses Geräusch passte nun gar nicht in diese verlassene Gegend. Spukte es hier im Dollart, oder wollte ihn jemand verarschen? Er folgte dem Geräusch.