Stefan machte weiter Fotos, auch im Nahbereich. Erdmann summte weiter das Lied vom unglücklichen Soldaten. Stefan sprach aus, was Broning dachte. »Der Stoff ist so vergammelt, da finden wir kein Einschussloch.«
Jetzt untersuchte Broning das Skelett, insbesondere den Schädel. Er sah in die leeren Augenhöhlen und hielt stumme Zwiesprache mit dem Toten. Was hast du als Letztes gesehen? Die Mündung eines Gewehrs, ein zustechendes Messer oder die Explosion einer Granate?
Wenn es Spuren im Knochenbereich gab, so konnte er sie bis jetzt nicht sehen. Am Fundort hatten sie keine Spuren gefunden. Ein Gewehrprojektil, das den Oberkörper durchschlagen hätte, ohne einen Knochen zu berühren, würde irgendwo in der Umgebung liegen und wäre längst verrostet. Bis auf die Knochen war kein organisches Gewebe mehr vorhanden. Ein Stich ins Herz mit einem Messer ließ sich nicht nachweisen, weil das Herz verwest war.
Broning sah seinen Kollegen an und schüttelte enttäuscht den Kopf. »Nada, nichts. Letzte Hoffnung Gerichtsmedizin.«
Aus dem Hintergrund fragte Erdmann: »Und, hatten Sie schon Gelegenheit, sich meine CD anzuhören?«
Jan Broning und Stefan Gastmann sahen sich entsetzt an.
Tag 3, nachmittags,
Mietwohnung von Sven Richter
Sven Richter hatte schlecht geschlafen. Immer wieder dachte er an seinen Opa Trinus, den man wie einen toten Hund in den Salzwiesen vergraben hatte. Er hatte seinen Opa über alles geliebt. So ein Ende hatte der nicht verdient. Irgendwann in der Nacht hatte Sven die doppelte Dosis Schlaftabletten genommen. Bis zum Mittag hatte er wie betäubt im Bett gelegen. Als er endlich wach wurde, fühlte er sich wie gerädert und es fiel ihm schwer, klar zu denken. Wie sollte es jetzt weitergehen?
Er war kein Soldat mehr. Diesen ersten Tag in Freiheit hatte er herbeigesehnt und gleichzeitig gefürchtet. Bis zu dem verhängnisvollen Einsatz hatte es ihm sehr gut bei der Bundeswehr gefallen. Die Kameradschaft mit den anderen Soldaten hatte ihm die Familie ersetzt.
Mit einer Tasse und einem Fotoalbum in den Händen setzte er sich an den kleinen Küchentisch, schlürfte den heißen Kaffee und blätterte im Album. Außer Fotos befanden sich Zeitungsausschnitte, Lehrgangsbescheinigungen und Teilnehmerlisten mit Adressen und Telefonnummern darin. Auf einem Foto saßen er und sein Kamerad Kuno Hortema nebeneinander in einem Bus der Bundeswehr. Ein Kamerad auf der Bank vor ihnen hatte auf den Kameraauslöser gedrückt. Ihr erster Einsatz in Afghanistan.
Als er das Foto betrachtete, wanderten seine Gedanken zurück zum Tag der Abreise. Er trug seine Bundeswehruniform mit dem neuen Abzeichen der Feuerwerker. Neben ihm standen seine Kameraden und verabschiedeten sich von ihren Frauen, Freundinnen oder der Familie. Er fühlte sich allein und verlassen. Niemand, der ihn in den Arm nahm, keine Träne für ihn zum Abschied.
Die Soldaten warteten im Regen auf den Bus, der sie zum Flughafen Köln-Wahn bringen sollte. In Afghanistan würden sie am ISAF-Einsatz der Bundeswehr teilnehmen. Sechs Stunden Flug aus ihrer Heimat in eine andere Welt lagen vor ihnen, mit einer Zwischenlandung im usbkekischen Termes, dann ging es weiter in den Norden. Ihr Einsatzgebiet: Kundus und Faizabad.
Der Bundeswehrbus hielt vor den wartenden Soldaten an. Sven wurde auf einen Kameraden aufmerksam, der von innen an die Scheibe klopfte und ihm zuwinkte. Die trübe Wolke über seiner Seele löste sich sofort auf, als er seinen Kumpel Kuno erkannte.
Sven verstaute seine Ausrüstung im Gepäckraum unter dem Bus. Er stieg als Erster ein, weil seine Kameraden sich noch nicht von ihren Angehörigen trennen konnten. Kuno winkte ihn zu sich und klopfte einladend auf den freien Sitz neben ihm. »Sven, setz dich zu mir, mein allerbester Kamerad und Freund des Longdrinks!« Die Männer lachten und gaben sich die Hand.
Kuno und Sven hatten sich bei der Grundausbildung im Heer kennengelernt. Der Ostfriese Kuno und der Bayer Sven hatten sich sofort verstanden. Vielleicht lag es daran, dass beide im Rheiderland das Licht der Welt erblickt hatten. Das war aber die einzige Gemeinsamkeit. Kuno Hortema, der Sohn reicher Eltern, war immer gut bei Kasse. Sven Richter, Geburtsname Visser, das Kind armer Leute, der Vater als Drogensüchtiger gestorben, hatte ständig Ebbe in der Geldbörse. Außerdem war sein Opa Trinus ein Wilderer gewesen. Nein, warum sollte er Kuno von den sechs Jahren seiner Kindheit im Rheiderland erzählen! Das ging nur ihn noch etwas an.
Kuno und Sven hatten sich erst einmal aus den Augen verloren. Ihre Wege hatten sich getrennt, als Sven zum Feuerwerker ausgebildet worden war. Und nun trafen sie sich hier, bei der Abfahrt zum Auslandseinsatz, wieder. »Na, wo wollen wir denn hin?«, fragte Kuno scheinheilig.
»Mallorca, sechs Monate Wellness am Ballermann«, antwortete Sven lachend. »Es ist doch der richtige Bus, oder?«
»Oh wat bün ick blied, dat du ock hier büst!« Als Kuno das fragende Gesicht seines Kollegen bemerkte, beeilte er sich, die Übersetzung nachzuliefern. »Sven, ich bin froh, dass du auch hier bist!«
Das war der Augenblick, den die Kamera festgehalten hatte.
Die Erinnerung verblasste und Sven blätterte weiter in seinem Fotoalbum.
Dann dieser entsetzliche Einsatz. Danach ein letztes Foto von ihm. Keine weiteren, nur noch leere Seiten.
Es fiel sofort auf, wie sich sein Gesicht nach diesem Vorfall verändert hatte. – Vorfall … was für eine kalte und nüchterne Beschreibung für das Töten eines Menschen. Wie oft hatte er schon an diesen Tag gedacht! Hätte er es verhindern können, was wäre wenn, und hätte ich doch. Er schloss die Augen, seine Hände stützten den Kopf und seine Schultern sanken herab.
Dieser schreckliche Tag in Afghanistan hatte zunächst wie die anderen Einsätze begonnen. Die Beseitigung einer Straßenbombe an einer Zufahrtsstraße zu ihrem Lager. Kuno war als Sicherungsposten auch dabei. Er gähnte ständig, weil er mit einigen Kameraden bis spät in die Nacht gepokert hatte. Sven hatte ihn dabei noch auf den bevorstehenden Einsatz hingewiesen. Kuno hatte nur abgewinkt, seine Glücksträhne hatte er nicht unterbrechen wollen. Sven war in der Nacht zweimal wachgeworden, weil die Kameraden beim Kartenspiel zu laut gewesen waren. Und drei Stunden Schlaf bis zum Einsatz waren dann doch wohl zu wenig für Kuno.
Sven legte sich gerade seine Ausrüstung zurecht, als er auf den Afghanen aufmerksam wurde. Irgendetwas war seltsam, wo war der Mann auf einmal hergekommen? Je näher der den Sicherungsposten kam, desto schneller wurden dessen Schritte. Der Afghane rannte jetzt auf Kuno zu. Mit Entsetzen sah Sven, dass sein Kumpel sich an das Sicherungsfahrzeug gelehnt hatte und eingeschlafen war.
Der Rest lief in Svens Erinnerungen immer in Zeitlupe ab. Sven schrie, seine Stimme klang dumpf und unnatürlich gedehnt. Er bückte sich zu seinem Gewehr. Kuno wurde endlich wach und begriff die Situation noch nicht. Der Afghane schrie jetzt auch, griff unter seinen Umhang und hielt eine Kalaschnikow in den Händen. Sven entsicherte seine Waffe, zielte und drückte ab. Der Afghane wurde in den Kopf getroffen und zur Seite geschleudert. Die anderen Sicherungsposten rannten zu dem am Boden liegenden Afghanen, nahmen die Kalaschnikow an sich. Sven stand da wie versteinert und hielt immer noch seine Waffe in der Hand. Er sah wie erstarrt auf den am Boden liegenden Afghanen, konnte sich nicht bewegen. Ein Sanitäter kniete inzwischen neben dem Mann und untersuchte ihn. Dann suchte der Sani den Blickkontakt zu Sven, der immer noch regungslos da stand. Der Sani schüttelte den Kopf und machte ein betroffenes Gesicht. In diesem Moment begriff Sven, dass man dem Mann, auf den er geschossen hatte, nicht mehr helfen konnte. Dann stand ein Kamerad neben Sven, redete beruhigend auf ihn ein und nahm ihm langsam die Waffe aus der Hand.
Danach war nichts mehr so, wie es vorher war.
Bei der späteren Untersuchung des Vorfalls stellten seine Vorgesetzten fest, dass Sven richtig gehandelt hatte. Der erschossene Afghane gehörte zu den Taliban. Ob es ein Selbstmordkommando gewesen oder ob der Afghane einfach durchgedreht war, konnte im Nachhinein nicht mehr festgestellt werden.
Seine Kameraden behandelten ihn mit Respekt. Ständig klopften sie ihm auf die Schulter. Kuno wusste genau, dass Sven ihn gerettet hatte. Trotzdem hatte Sven Schuldgefühle.