Unterdessen kniete Araua im Gewölbe des Schlangengottes. Sie war nackt bis auf den Lendenschurz. In ihrem Haar funkelte der Reif mit den zwei Schlangenköpfen, und die beiden Schlangenleiber schien Leben zu erfüllen, sie schienen sich im Haar der jungen Schlangenpriesterin zu ringeln.
Arauas junger, biegsamer Körper schien sich vor dem Schlangengott in einem geheimnisvollen Tanz zu bewegen. Unablässig huschten die zuckenden Lichter der heiligen Flammen, die Araua und die Statue des Schlangengottes wie ein magischer Kreis umgaben, über die braune Haut ihrer Glieder.
Aber das täuschte, Araua bewegte sich nicht. Sie hatte die Augen geschlossen und beide Arme dem Schlangengott entgegengestreckt. Sie spürte, daß der Schlangengott zu ihr sprechen würde, und nun wartete sie geduldig darauf, seine Stimme zu vernehmen. Denn Angst war in Araua. Sie hatte das Unwetter auf der Schlangeninsel miterlebt, und sie wußte, daß ihre Mutter und ihre Schlangenkriegerinnen sich in seinem Zentrum befunden haben mußten.
„Sag mir, ob sie noch leben, Schlangengott, der du über ungezählte Generationen unseres Volkes gewacht hast. Sag mir, was ich tun kann, um sie zu retten …“
Araua hatte das nicht gesprochen, nicht einmal geflüstert, sie hatte es lediglich gedacht. Und sie spürte, wie schwer es war, dies alles nun ganz allein tun zu müssen, allein, ohne den Rat und ohne die Hilfe Arkanas, der Hohepriesterin des Schlangengottes.
„Öffne deine Augen, Araua, Tochter Arkanas und des Seewolfs, geboren auf Mocha, wie es meinem Willen entsprach“, vernahm sie die Stimme des Schlangengottes in ihrem Innern, und sie klang freundlich.
Araua öffnete die Augen, und sie blickte geradewegs in die grünen, von eigentümlichem Leuchten erfüllten Augen des Schlangengottes. „Du wirst auf Siri-Tong warten, auf die Rote Korsarin. Sobald sie eintrifft, führst du sie zu mir. Ich, der Schlangengott, will mit ihr reden. Du, Araua, wirst hören, was ich ihr zu sagen habe, denn die Rote Korsarin ist die einzige von den Fremden auf dieser Insel, die an mich glaubt. Ich werde euch dann sagen, wo ihr Arkana findet. Aber es wird eine Zeit der schweren Prüfungen für euch alle werden. Wenn ihr die aber so besteht, daß ich zufrieden mit euch bin, dann werdet ihr eine lange Reise zusammen unternehmen, und auch Arkana wird euch begleiten auf dieser Reise.“
Der Schlangengott schwieg einen Moment lang, und das Glühen seiner Augen schwächte sich ab. Aber dann wurde es wieder stärker.
„Siri-Tong, die diese Insel schon lange vor euch allen kannte, und du, ihr werdet mit der Roten Korsarin von hier aus genau nach Südwesten segeln. Wenn es an der Zeit ist, werde ich euch ein Zeichen senden, und ihr werdet wissen, was anschließend zu tun ist. Ich werde dich schützen, kleine Araua, denn ich habe mit dir noch viel vor. Aber du wirst dennoch vorsichtig sein müssen, sehr vorsichtig. Laß mich jetzt allein, denn ich muß alles noch genau überdenken. Und tu, wie ich dir gesagt habe. Laß das heilige Feuer brennen, bis es von selbst verlöscht.“
Araua verließ das Gewölbe. Sie war verwirrt. Was der Schlangengott ihr soeben gesagt hatte, begriff sie noch nicht so recht. Was bedeutete es – daß sie mit Siri-Tong eine lange Reise machen würde, an der dann auch Arkana teilnehmen würde? Und was meinte der Schlangengott damit, daß ihnen allen schwere Prüfungen bevorstehen würden, die sie aber zu seiner Zufriedenheit bestehen müßten? Und warum wollte er mit Siri-Tong sprechen? Das geschah zum erstenmal, seit sie denken konnte.
Wahrlich, es geschahen merkwürdige Dinge auf der Schlangeninsel, und alles war in Fluß geraten …
Als Araua aus dem Schlangentempel trat, traf sie auf Karl von Hutten.
Er blieb vor ihr stehen.
„Wir hatten Sorge um dich, Araua. Sieh dir die Insel an, das Unwetter hat viele Verwüstungen angerichtet. Auch oben im Dorf der Araukaner. Wir werden eine Weile zu tun haben, bis alles wieder seine alte Ordnung haben wird. Was ist geschehen, Araua, du siehst so verändert aus? Sag es mir …“
Araua lächelte ihn an. Dann schüttelte sie den Kopf.
„Siri-Tong wird mit ‚Roter Drache‘ bald nach dem Sturm in die Schlangenbucht einlaufen. Ich werde sie erwarten, denn der Schlangengott hat mir aufgetragen, Siri-Tong sofort zu ihm zu führen, sobald sie wieder hier ist.“
Karl von Hutten blickte das Mädchen, das da fast nackt und in voll erblühter Schönheit vor ihm stand, an, zweifelnd und ungläubig.
„Der Schlangengott will Siri-Tong sprechen, Araua?“
Araua nickte.
„Ja, ich soll mit ihr zusammen genau nach Südwesten segeln. Er wird uns dann, sobald es an der Zeit ist, ein Zeichen schicken, das uns helfen wird, Arkana und die Schlangenkriegerinnen zu finden. Aber der Schlangengott sagte auch, daß uns schwere Prüfungen bevorstehen, die wir zu seiner Zufriedenheit lösen müßten, bevor …“
„Bevor … bevor was, Araua?“ fragte Karl von Hutten und warf gleichzeitig einen scheuen Blick zum Eingang des Schlangentempels hinüber.
Doch Araua schüttelte den Kopf. Sie berührte ihn leicht mit den Fingerspitzen ihrer rechten Hand und begann dann den beschwerlichen Aufstieg zur Beobachtungsplattform auf dem Felsendom. Trotz der heftigen Böen, die immer noch durch die Schlangenbucht pfiffen.
Stunden später tauchte der „Rote Drache“ von Siri-Tong an der Kimm auf und nahm sofort Kurs auf die Schlangeninsel. Dann warf die Rote Korsarin Anker, denn sie mußte auf das Einsetzen des Mahlstroms warten, bevor sie durch den Felsendom in die Schlangenbucht einsegeln konnte.
Araua aber wartete nicht solange Sie ließ sich von ihren Schlangenkriegerinnen mit einem der noch intakten Boote zum Viermaster Siri-Tongs hinauspaddeln.
Auch „Roter Drache“ wies einige Schäden auf, auch der große Viermaster war noch in die Ausläufer des Unwetters geraten.
Nur wenig später befand sich auch die Rote Korsarin auf der Schlangeninsel, denn Araua hatte nicht lockergelassen. Der Schlangengott hatte ihr aufgetragen, Siri-Tong sofort nach ihrer Ankunft zu ihm zu bringen, und die Rote Korsarin widersetzte sich dem nicht. Ihren Viermaster würde der Boston-Mann durch den Felsendom segeln. Der Wikinger hatte ihn Siri-Tong mitgegeben, weil er mit dem alten Ramsgate die Überholung des Schwarzen Seglers vorbereiten sollte, nachdem alle notwendigen Materialien nunmehr vorhanden waren.
Karl von Hutten empfing die beiden in der Schlangenbucht. Er trat auf die Rote Korsarin zu.
„Wieso bist du allein zurückgesegelt, Siri-Tong“, fragte er. „War es nicht ausgemacht, daß ihr alle im Konvoi zurückkehren würdet?“
Die Rote Korsarin nickte.
„Das schon, aber Diego hatte einige Schwierigkeiten, alles das, was wir benötigen, rasch genug zu besorgen. Deshalb sind der Wikinger, Jean Ribault und Jerry Reves mit ihren Schiffen noch im Hafen von Tortuga geblieben. Sie werden zurückkehren, sobald Diego alles das aufgetrieben hat, was wir hier brauchen. Tauwerk, Segeltuch und andere Dinge habe ich an Bord von ‚Roter Drache‘. Der Boston-Mann hat Anweisung, das Schiff bis zur Werft von Ramsgate zu verholen und dort zu löschen.“
Die Rote Korsarin schwieg, während Araua bereits ungeduldig die Hand Siri-Tongs nahm, um sie zum Eingang des Schlangentempels hinüberzuziehen. Araua wußte nur zu gut, wie schnell man sich den Zorn des Schlangengottes zuziehen konnte, wenn man seine Anweisungen nicht so befolgte, wie er das wollte.
Siri-Tong griff jedoch nach Arauas Hand und hielt sie fest.
„Araua hat mir berichtet, was inzwischen geschehen ist und was ihr der Schlangengott für einen Auftrag erteilt hat, Araua und mir. Ich werde mit ‚Roter Drache‘ segeln, sobald das Schiff entladen ist. Aber da ist noch etwas, was du und was alle hier auf der, Schlangeninsel wissen sollten: Auf Tortuga hat sich eine Piratin eingenistet. Sie scheint schon seit einiger Zeit ihr Unwesen in der Karibik zu treiben, und man nennt sie die ‚Black Queen‘. Sie ist eine Schwarze, und sie scheint verdammt gefährlich zu sein, wenn das stimmt,