Der Alte neben ihm bewegte sich und nahm einen Krug, der mit einer Tonscherbe bedeckt war. Bedächtig schenkte er eine goldgelbe Flüssigkeit in einen Becher und reichte ihn Said.
Unter anderen Umständen hätte Said gezögert und Ausflüchte gefunden, nicht zu trinken, aber er verspürte keine Furcht. Der Mann würde ihn nicht vergiften. Es war eine Geste der Gastfreundschaft, die er dankend annahm. Der Saft schmeckte süß auf der Zunge, angegoren und mit einer leichten Schärfe, die aber erstaunlich erfrischend war. Der Alte trank ebenfalls, nachdem Said ihm den Becher zurückgegeben hatte, und goss den Rest in eine flache Schale zu Füßen der Statue, in der noch die getrockneten Überreste vormaliger Trankopfer klebten. Die üblichen Schwärme Fliegen und anderer Insekten fehlten jedoch, als wüssten auch sie, dass dieser Nektar der Travia gehörte.
Der Geschichtenerzähler erhob sich ächzend und bedeutete Said mit einer Geste, ihm nach draußen zu folgen. Die Sonne war inzwischen hinter den Gipfeln des Regengebirges verschwunden, sodass sich Dunkelheit über die Senke gelegt hatte, die nur vom Schein der verschiedenen Kochfeuer durchbrochen wurde. Die Geräusche des Dschungels klangen nun sehr nah, und von den Hütten schwebte ein eigentümlicher, schwermütiger Gesang den Hang empor. Der Alte humpelte ein Stück bis zu einem Felsbrocken, auf dem er sich niederließ. Auffordernd klopfte er neben sich und nestelte aus seinem Beutel eine geschnitzte Pfeife und etwas Mohacca, das er in ein schmutziges Tuch eingeschlagen hatte. Said wartete geduldig, bis er das Rauchwerk gestopft und mit einem Stück alten Eisens entzündet hatte. Würziger Rauch stieg wenig später von dem knorrigen Pfeifenkopf auf, und der Alte lehnte sich mit einem leisen Seufzer zurück.
»Ich kannte deinen Vater«, durchbrach er schließlich das Schweigen. »Er hat viel für uns getan. Für diesen Ort. Nicht nur mit Geld. Er hat Leute geschickt, die uns geholfen haben, die Hütten neu zu bauen. Sie haben die Zisterne angelegt, uns Reis gebracht, damit wir nicht hungern mussten. Das Leben ist besser geworden, damals.« Er lächelte, während er die Pfeife wieder zwischen die Lippen nahm und gedankenverloren auf die schäbigen Hütten in der Senke hinabblickte. »Viele hier verehren deinen Vater noch heute«, fuhr er nach einer kleinen Weile fort. »Als Heilsbringer und jemanden, der ihre Not gesehen hat. Die Schwarzen Garden kamen nicht her, als sie die Stadt gesäubert haben, sodass viele hier Zuflucht gesucht haben. Travinaia hat sein Gesicht verändert, seitdem. Es ist rauer geworden. Aber es steht unter dem Schutz der gütigen Herrin, und das sollten wir nicht vergessen.«
»Ich wusste nicht, dass mein Vater so viel auf Travia gegeben hat«, wandte Said zögerlich ein. Tatsächlich wusste er sehr wenig darüber, an was Aurelian geglaubt hatte, stellte er fest. Der Glaube an den Götterfürsten Boron gehörte in Al’Anfa dazu wie der Arenabesuch und das wohlgefällige Nicken bei der Flottenparade. Was seinen Vater jedoch wirklich bewegt hatte, wusste Said nicht. Er konnte nicht sagen, ob Aurelian Bonareth überhaupt vor irgendeiner Gottheit sein Knie gebeugt hatte, oder letztendlich der Frevler war, zu dem ihn die Verlautbarungen des Generals gemacht hatten.
Der alte Mann deutete ein Kopfschütteln an. »Die Leute haben es geglaubt, weil sie es glauben wollten. Aber dein Vater hat sie benutzt. Sie waren die Waffe, die er gegen seine Feinde führen konnte, indem er ihnen Hoffnungen gemacht hat.«
»Was ist daran falsch?« Said runzelte die Stirn. »Man sollte Hoffnung haben im Leben. Sonst unterscheidet man sich kaum von den Selemferkeln, die den Straßendreck durchwühlen. Wobei selbst das Schwein noch die Hoffnung hegt, in seinem nächsten Leben ein besseres Dasein zu erlangen«, fügte er mit einem flüchtigen Schmunzeln hinzu. Es war eine Eigenart der Maraskaner gewesen, in allem die Harmonie und die Schönheit der Welt wiederfinden zu wollen. Selbst in den mageren, langbeinigen Ferkeln, die Al’Anfas Unrat fraßen.
Der Geschichtenerzähler schmunzelte ebenfalls unter seinem schütteren Bart, ohne Said dabei anzusehen. »Hoffnungen sind gut. Aber es ist gefährlich, Hoffnungen zu wecken, die man nicht erfüllen kann. Oder will.« Er blickte auf die Pfeife in seiner Hand und reichte sie an Said weiter. »Dein Vater wusste, dass er mit den Hoffnungen nur spielen konnte. Er hatte niemals vor, sie wahr werden zu lassen. Die Ordnung der Welt lässt sich nicht mit ein paar Versprechen ändern. Auch das wusste er.«
Said nickte langsam, während er einen vorsichtigen Zug aus der Pfeife nahm. Das Kraut war gestreckt, aber stark genug, dass es den erdigen Geschmack nach getrocknetem Palmbast übertünchte. »Du redest, als seist du damals dabei gewesen«, sagte er, nachdem er die Pfeife zurückgegeben hatte. »Wenn du all das wusstest, warum bist du ihm trotzdem gefolgt?«
»Ich bin ihm nicht gefolgt«, sagte der alte Mann leise, und nun endlich sah er Said an. »Ich habe gesehen, was geschehen ist. Er war grausam denen gegenüber, die das Wort gegen ihn ergriffen haben und zweifelten, ob sein Weg der richtige war. Deshalb habe ich damals geschwiegen und habe zugesehen, wie sie in ihr Verderben gelaufen sind. Man kann Träume nicht aus Blut formen.«
Said runzelte die Stirn. Eindringlich hielt der Alte seinen Blick, dass er sich zwingen musste, ihm nicht auszuweichen.
»Warum erzählst du mir das alles?«, fragte er misstrauisch.
»Ich bin nicht mein Vater.«
»Ich habe mir geschworen, nicht noch einmal zu schweigen.« Der dürre Bart zitterte, als die Mundwinkel des Alten zur Seite zuckten. »Deshalb will ich wissen, warum du hier bist. Wirst du auch Verderben über diesen Ort bringen?«
»Wovon sprichst du?« Said schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht vor, hier irgendwem etwas zu tun. Ich bin hier, um Rahanez zu treffen.«
»Und sie will dich treffen.« Der alte Geschichtenerzähler nickte schwerfällig und zog seinen Beutel auf den Schoß, um darin zu wühlen. Er klang mit einem Mal müde und alt. »Ich habe eine Nachricht für dich. Sie wollte, dass ich sie dir gebe, wenn du hier auftauchst. Hier.«
Er zog zwei Holztafeln hervor, die mit einer dürren Schnur zusammengehalten wurden, und hielt sie Said hin. Doch ehe dieser danach greifen konnte, zog er sie noch einmal zurück. »Vergiss nicht, dass du den Trank der gütigen Herrin gekostet hast«, sagte er leise. »Vergiss es nicht.«
Said blinzelte verwirrt und ließ die Hand wieder sinken, die er bereits erhoben hatte. »Natürlich vergesse ich das nicht.«, antwortete er. »Ich danke dir dafür. Und für deine Worte.«
Der Alte nickte langsam und hob die ledrige Hand mit den Tafeln. »Travia schütze dich, Said«, sagte er mit einigem Zögern. Es klang nicht überzeugt.
Said konnte sich später nicht mehr daran erinnern, wie lange er durch die Dunkelheit gestolpert war. Er hatte das Band um die Tafeln gelöst, kaum dass der Alte gegangen war. Natürlich konnte jemand wie Rahanez nicht schreiben, sodass sich seine erste Enttäuschung rasch verflüchtigt hatte, als er sah, dass sie ihm anstelle einer Nachricht eine Art Karte hinterlassen hatte. Im ersten Moment war er versucht gewesen, noch in der Nacht aufzubrechen, aber sein geschwächter Körper und die Tatsache, dass er in der Finsternis an Wegmarken vorbeilaufen würde, ohne sie zu bemerken, hatten ihn davon abgebracht. Im Schutz des Traviaschreins hatte er ein paar Stunden Schlaf gefunden, ehe er sich im ersten Sonnenlicht mit knurrendem Magen auf den Weg gemacht hatte.
Die Anhaltspunkte auf der Karte waren nicht leicht zu entziffern und führten ihn geradewegs in den Dschungel hinein. Schon nach wenigen Schritten drang kaum noch ein Sonnenstrahl durch das Blätterdach der uralten Urwaldriesen. Ein unwirkliches Zwielicht lag zwischen den rauen Stämmen, an denen sich Lianen und andere Schlingpflanzen emporschlängelten. Dazwischen erhoben sich mannshohe Farne und Buschwerk mit ausladendem Blattwerk, auf dem noch die Feuchtigkeit der Nacht schimmerte. Affen und Urwaldvögel krakeelten auf den Ästen, das Surren und