Kapitel 1
Sich kennen und sich meistern
Worte der Mutter
Ein Leben ohne Ziel ist ein Leben ohne Freude.
Habt alle ein Ziel, vergesst jedoch nicht, dass der Wert eures Lebens vom Wert eures Ziels abhängt.
Euer Ziel sei hoch und weit, edel und selbstlos, so wird euer Leben für euch und für die anderen wertvoll werden. Doch welches auch immer das Ideal sei, nach dem ihr strebt, ihr werdet es nur dann vollkommen verwirklichen, wenn ihr die Vollendung in euch selbst verwirklicht.
Der erste Schritt in dieser Arbeit der Selbstvollendung besteht darin, sich seiner selbst und der verschiedenen Ebenen seines Seins sowie ihrer zugehörigen Tätigkeiten bewusst zu werden. Wir müssen lernen, diese verschiedenen Ebenen voneinander zu unterscheiden, damit wir den Ursprung der Bewegungen, die in uns stattfinden, deutlich zu erkennen vermögen, die Quelle der Impulse, der Reaktionen und der verschiedenen Triebe, die uns zum Handeln antreiben. Es ist ein unermüdliches Studium, das viel Ausdauer und Aufrichtigkeit erfordert, denn die menschliche Natur, vor allem die mentale, hat die spontane Neigung, für alles, was wir denken, fühlen, sagen und tun eine Rechtfertigung zu finden. Nur wenn wir diese Bewegungen mit großer Sorgfalt beobachten, wenn wir sie sozusagen immer vor den Richterstuhl unseres höchsten Ideals stellen mit dem ehrlichen Willen, uns seinem Urteilsspruch zu unterwerfen, dürfen wir hoffen, in uns eine Urteilskraft zu erziehen, die sich nicht täuscht. Denn wenn wir wirklich Fortschritte machen wollen, wenn wir fähig werden wollen, die Wahrheit unseres Seins zu erkennen – das heißt, unsere eigentliche Aufgabe, das, was wir unsere Mission auf Erden nennen könnten –, dann müssen wir regelmäßig und unablässig all das von uns zurückweisen oder in uns ausmerzen, was mit der Wahrheit unseres Seins nicht in Einklang steht, was sich ihr entgegenstellt. Nur so können nach und nach alle Teile, alle Elemente unseres Wesens, zu einem harmonischen Ganzen um unseren seelischen Mittelpunkt angeordnet werden. Es ist viel Zeit erforderlich, um diese Arbeit der Vereinheitlichung auch nur annähernd zur Vollkommenheit zu bringen. So müssen wir uns, damit sie gelingen kann, mit Geduld und Ausdauer wappnen, entschlossen, unser Leben so weit zu verlängern, als es notwendig ist, um unser Unternehmen zu vollenden.
In derselben Zeit, in der wir dieser Arbeit der Reinigung und Vereinheitlichung nachgehen, müssen wir große Sorgfalt darauf verwenden, den äußeren und instrumentalen Teil unseres Wesens zu vervollkommnen. Wenn die höchste Wahrheit sich offenbaren wird, muss sie in uns einen Verstand vorfinden, der reich und geschmeidig genug ist, um der Idee, die sich ausdrücken will, eine Gedankenform geben zu können, die ihre Kraft und Klarheit bewahrt. Der Gedanke selbst muss, will er sich in Worte kleiden, eine genügend starke Ausdruckskraft in uns finden, damit unsere Worte ihn offenbaren und nicht entstellen. Und diese Form, in die wir die Wahrheit gehüllt haben, muss sich in all unseren Gefühlen, in unserem ganzen Willen, in all unseren Handlungen, in allen Bewegungen unseres Wesens offenbaren. Schließlich müssen diese Bewegungen selbst durch eine unablässige Anstrengung ihre höchste Vollendung erreichen.
All dies kann mit Hilfe einer vierfachen Disziplin erreicht werden, von der hier die großen Linien gegeben werden. Diese vier Seiten der Disziplin schließen sich gegenseitig nicht aus und können gleichzeitig verfolgt werden; dies ist sogar besser. Der Ausgangspunkt ist das, was man seelische Disziplin nennen könnte. Was wir hier mit „seelisch“ bezeichnen, ist der psychologische Mittelpunkt unseres Wesens, der Sitz der höchsten Wahrheit unseres Seins in uns. Es ist das in uns, was die Macht hat, diese Wahrheit zu erkennen und sie in Bewegung, zu setzen. Darum ist es außerordentlich wichtig, dass wir uns seiner Gegenwart in uns bewusst werden und uns auf diese Gegenwart konzentrieren, bis sie eine lebendige Tatsache für uns geworden ist und wir uns mit ihr identifizieren können.
Zu allen Zeiten sind in den verschiedenen Ländern viele Methoden empfohlen worden, um dieses Bewusstsein und schließlich diese Identifikation zu erreichen. Manche Methoden sind psychologisch, manche religiös und manche sogar mechanisch. Jeder muss sich die aussuchen, die am besten zu ihm passt, und wenn unser Sehnen glühend und inbrünstig, unser Wille ausdauernd und dynamisch ist, so können wir sicher sein, auf die eine oder andere Weise – äußerlich durch Lesen oder Belehrung, innerlich durch Sammlung und Andacht, durch Offenbarung und Erlebnis – die Hilfe zu bekommen, die wir brauchen, um das Ziel zu erreichen.
Eines nur ist ganz und gar unerlässlich: der Wille zu finden und zu verwirklichen. Diese Entdeckung und Verwirklichung müssen das Hauptanliegen unseres Lebens werden, die kostbare Perle, die man erwerben will, koste es, was es wolle. Was wir auch immer tun mögen, welches unsere Beschäftigung und unsere Tätigkeiten auch immer sein mögen – der Wille, die Wahrheit unseres Wesens zu finden und mit ihr eins zu werden, muss immer lebendig und gegenwärtig hinter allem stehen, was wir tun, was wir empfinden, was wir denken.
Wenn wir diese innere Entdeckung vervollständigen wollen, wird es gut sein, die mentale Entwicklung nicht zu vernachlässigen. Denn das denkende Werkzeug kann entweder gleichgültig oder eine große Hilfe oder aber ein sehr großes Hindernis sein. Das menschliche Denken ist ja, in seinem Naturzustande, immer begrenzt in seiner Sicht, beschränkt in seiner Auffassungsgabe, starr in seinen Meinungen. Es bedarf also einer unablässigen Anstrengung, um es zu vertiefen und geschmeidig zu machen. Daher wird es sehr notwendig, alle Dinge von so vielen Gesichtspunkten aus wie nur möglich zu betrachten. Dazu gibt es eine Übung, die das Denken flexibel macht und es erhöht. Sie besteht in folgendem: Man stellt eine Behauptung auf, indem man sie klar formuliert. Dann stellt man ihr mit derselben Klarheit und Genauigkeit die Gegenbehauptung gegenüber. Sodann muss man durch aufmerksame Überlegung das Problem erweitern oder sich darüber erheben, bis man die Synthese gefunden hat, die die beiden Gegensätze in einer weiteren, höheren und umfassenderen Idee vereint.
Es lassen sich viele weitere Übungen derselben Art machen. Manche haben einen förderlichen Einfluss auf den Charakter und so einen doppelten Vorteil: den, das Denken zu erziehen und den, eine Kontrolle über die Gefühle und ihre Auswirkungen zu bekommen. Man darf zum Beispiel niemals seinem Verstand erlauben, Dinge und Menschen zu beurteilen, denn das Denken ist kein Werkzeug der Erkenntnis. Es ist ihm unmöglich, die Erkenntnis zu finden, aber es soll von ihr in Bewegung gesetzt werden. Die Erkenntnis gehört einem viel höheren Reiche an als dem des menschlichen Denkens, sie steht weit darüber, noch oberhalb der Ebene der reinen Ideen. Unser Denken muss schweigend lauschen können, um die Erkenntnis von oben zu empfangen und um sie auszudrücken, denn es ist ein Werkzeug der Formation, der Organisation und der Handlung. Und in diesen Funktionen hat es seinen vollen Wert und seinen wirklichen Nutzen.
Eine andere Gewohnheit, die für den Fortschritt des Bewusstseins sehr nützlich sein kann, besteht darin, dass man sich niemals in seine eigene Auffassung einschließt, sich in seinen eigenen Standpunkt verbohrt, wenn man mit jemandem in irgendeinem Punkt nicht übereinstimmt, beispielsweise im Hinblick auf eine Entscheidung, die zu fällen oder ein Unternehmen, das zu beginnen ist. Im Gegenteil sollte man sich bemühen, den Standpunkt des anderen zu verstehen, sich an seine Stelle zu versetzen. Und anstatt sich zu streiten oder gar handgreiflich zu werden, muss man eine Lösung finden, die beide Parteien in annehmbarer Weise befriedigt – es gibt immer eine Lösung für Menschen guten Willens.
Hier müssen wir auf die Disziplin des Vitalen zu sprechen kommen. Das vitale Wesen in uns ist der Sitz der Triebe und Wünsche, der Begeisterung und der Heftigkeit, der dynamischen Energie und der verzweifelten Depressionen, der Leidenschaften und der Auflehnung. Es kann alles in Bewegung setzen, aufbauen und verwirklichen, aber es kann auch alles zerstören und alles verderben. So ist es im menschlichen Wesen vielleicht der Teil, der am schwierigsten zu disziplinieren ist. Es ist eine langwierige Arbeit, die eine große Geduld und eine vollkommene Aufrichtigkeit erfordert, denn ohne Aufrichtigkeit vom ersten Schritt an wird man sich nur selbst täuschen, und jeder Versuch des Fortschritts wird vergeblich sein.
Mit der Mitarbeit des Vitalen scheint kein Erfolg unmöglich, keine Verwandlung undurchführbar. Doch die Schwierigkeit liegt darin, diese ständige Mitarbeit zu erhalten. Das Vitale ist ein guter Arbeiter, aber es sucht