Die Farbe von Jade. Luzia Schupp-Maurer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Luzia Schupp-Maurer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783981746099
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Wald nicht verärgern. Sie war auf seine Hilfe angewiesen. Weit ging sie nicht und als sie zu ihrem Versteck zurückkam, verwischte sie ihre Spuren so gut es ging, schlüpfte dann eilig hinein, lag einfach da, zusammengekauert in dieser Mulde aus Zweigen, Wurzeln und Farnen im Inneren des Banyan und lauschte.

      Unendlich langsam verstrichen die Stunden. San Youn schlief ein, wachte irgendwann wieder auf. Nichts hatte sich geändert. War das alles wirklich geschehen? War es nicht doch nur ein Traum? Sie schaute aus ihrem Versteck. Blätter fielen, Insekten summten, sonst gab es nichts. Als sei sie der einzige Mensch auf der Welt. Vielleicht war das ja nur eine Prüfung. Vielleicht musste sie hier nur eine Weile ausharren und dann könnte sie wieder zurückkehren. Ihre Mutter würde sie umarmen, ihr Reis geben mit Chili oder es gäbe dann vielleicht sogar Kokosnuss und Bananen. Alle wären sie da. Mi Mi, Aung Ni, Nu Kaung und San Kyi und die Zebu-Kuh. Vielleicht hatten sich Nu Kaung und San Kyi auch nur versteckt und kamen sie gleich holen. Dann hatte sie die Prüfung bestanden. Sie musste ja lernen, sich zu verstecken und sich zu schützen vor den Regierungssoldaten, den Tatmadaw. Vor denen hatten sie alle Angst. Auch Mi Mi. Noch mehr als vor den wenigen scheuen Raubtieren.

      San Youn hörte plötzlich die Stimme ihrer Mutter. Sie hatte damals gelauscht, als Mi Mi abends mit den Nachbarn und der Dorfältesten zusammengesessen hatte:

       »Selbst die großen Tiger vergewaltigen niemals«, sagte Mi Mi. »Sie schießen niemals und greifen nicht in Gruppen an. Sie töten nicht aus Hass. Wenn sie Angst haben, laufen sie weg und schießen nicht. Raubtiere töten nur, um zu fressen. Oder um ihre Kinder zu beschützen.«

       Jemand sagte: »Das tun unsere Soldaten auch.«

       Mi Mi seufzte: »Jaja, es gibt gute und schlechte Soldaten. Die guten sind immer die des eigenen Volksstammes.«

       Ein älterer Mann schlug mit der Hand auf den Boden. »Die Milizen der Karen vergewaltigen nicht. Sie schießen nur, weil es sonst noch mehr Tote gibt! Die Tatmadaw werden uns alle töten. Sie zerstören die Dörfer, klauen Kinder und Frauen und schlachten uns ab wie Vieh. Das muss aufhören. Die Militärregierung beleidigt und zerstört das ganze Land. Dieses Land war einmal eines der reichsten Länder Asiens. Jetzt haben sie es zu einem der unterentwickeltsten Länder überhaupt gemacht. Die Welt schaut auf uns herab und wir verhungern!«

       Ein jüngerer Mann nickte. »Wenn man nicht zurückschießt, werden wir bald alle tot sein und in kürzester Zeit auch andere Volksgruppen.«

       Mi Mi nickte zustimmend: »Ja, es ist schlimm, was die Regierung tut. Deshalb dürfen wir aber nicht auch etwas Schlimmes tun.«

       Die Dorfälteste meldete sich zu Wort. »Wie stellst du dir das vor?«

       »Einen Menschen darf man nur dann erschießen, wenn man ihn ganz genau kennt«, sagte Mi Mi bestimmt. »Wenn man weiß, wovor er Angst hat und was er sich wünscht. Wenn man das so macht, kann und will man kaum noch jemanden erschießen.«

      Ein dritter Mann lachte über sie. »Wenn du so klug bist, schreib deinen Mist doch auf.« Er wusste, dass sie nicht schreiben konnte.

       Da nahm Mi Mi einen Zweig und malte in die Erde zwei Menschen. Jeden mit einem Maschinengewehr und einem Herz. Dann sagte sie: »Beide sind aus derselben Erde, mit demselben Zweig gezeichnet. Sie haben zwei Dinge bekommen, ein Gewehr und ein Herz. Nun müssen sie sich entscheiden, was sie damit machen wollen.«

      Der Mann, der über sie gelacht hatte, schlug ihr ins Gesicht. Die Dorfälteste aber nickte lächelnd.

      San Youn erwachte wieder aus ihren Träumen. Mi Mi würde sie niemals so lange in den Wald schicken. Auch nicht, um sie zu prüfen. Sie wollte weinen, wollte schreien, traute sich aber nicht, wollte keine Geräusche machen. So nahm sie ein Stück Holz und biss darauf.

      Der Tag wollte und wollte nicht vergehen. Und die Nacht, als sie endlich hereingebrochen war, erst recht nicht. San Youns Beine und Füße waren blutig und wund von zahllosen Zweigen und scharfen Blatträndern. Sie fror, obwohl es nachts sehr warm und schwül war. Die Kälte kam von innen. Bauchschmerzen plagten sie. Vielleicht war es das Wasser vom Bach. Dieses Wasser konnte krank machen. Es lebten winzige, unsichtbare Geister darin. Vielleicht kam das Bauchweh auch von den unbekannten Blättern, die sie hin und wieder aß oder von den ungekochten Insekten. Oder es war die Angst. Oder böse Geister, die umhergingen. Sie hatte ihre Mutter und den Bruder im Stich gelassen. Wie sehr wollte sie wenigstens nach Mi Mi rufen, es ihr erklären, sie um Vergebung bitten. Aber das durfte sie nicht, musste leise sein, musste erwachsen sein. Wo wohl Nu Kaung und San Kyi waren? Und die Zebu-Kuh? Ob die Soldaten die Kuh auch töten würden? Ob sie sie mitgenommen hatten? Ob sie wohl gut zu ihr waren? Der Wald flüsterte wieder. Nun hörte sie Buschmesser, unentwegt, und Schritte. Sie waren überall.

      Die Buschmesser wüteten die ganze Nacht. San Youn hatte kein Zeitgefühl mehr. Nun blieb sie in ihrem Banyan, halb wachend, halb schlafend, halb ohnmächtig. Irgendwann konnte sie die Geräusche der Schritte und Buschmesser nicht mehr ertragen. San Youn verließ ihr Versteck – endlich, nach endlosen Stunden, die zäh und langsam durch vier Tage und Nächte gekrochen waren. Sie wollte nach Hause, wollte aus dieser Höhle heraus, die ihre Haut zerschnitt und sie nicht richtig schützen konnte. Sie hatte Hunger, wurde immer schwächer und ihr Geist verlor seine Richtung. Sie wollte weg. Wollte weglaufen. Einfach gehen. Einfach nur gehen. Sonst wusste sie nicht, was sie tun sollte. Es zog sie Richtung Dorf. San Youn suchte sich den Weg zurück durch die dichte Vegetation. Sie kam nur langsam voran, arbeitete sich durch das Gewirr von Lianen, Wurzeln und Ästen, immer darauf bedacht, Schlangen und anderen gefährlichen Waldgeistern aus dem Weg zu gehen. Die Schritte der Soldaten schienen ihr stetig zu folgen, immer unsichtbar, immer da.

      Es dauerte, bis sie das Dorf wiederfand. Im Dickicht des Waldrandes versteckte sie sich. Sie lauschte. Es gab kein Geräusch. Vorsichtig schlich sie sich näher. Die Hütten waren zerstört und ausgeplündert. Der Geruch von Tod hing schwer in der Luft. Keine Menschenseele war da. Keine Kuh und auch sonst kein lebendiges Wesen. Bis sie doch jemanden entdeckte. Zuerst sah sie nur das schmutzige Kleid, das die Frau trug, dann ihr Gesicht. Es war die Dorfälteste, die da halb unter der herausgerissenen und zertretenen Bambustür ihrer Hütte lag. Sie war einundsiebzig Jahre, so alt, wie kaum ein Mensch wird. Sie war unglaublich klug, kannte viele Heilkräuter und wenn man einen Rat brauchte, fragte man sie. Man hatte Respekt vor ihr und ihrem Alter. Jetzt krochen Fliegen aus ihrem offenen Mund, und Maden, ihr Kiefer war seltsam schief und ihre Haut hatte eine bläulich graue Farbe. Sie würde jetzt ein sehr böser Geist sein, der viel Kraft hatte. San Youn konnte sich kaum regen. Übelkeit schnürte ihr den Atem ab. Sie zwang sich weiterzugehen, sie musste zu ihrer Hütte, auch wenn sie sie von hier schon sehen konnte. Die Stützpfosten waren zerstört und die Hütte lag eingestürzt auf dem Boden. San Youn blieb vor der Ruine stehen und begann, leise nach ihren Schwestern zu rufen, den Blick starr auf die Reste der Hütte gerichtet. Da lagen unter den langen, trockenen Nipapalmblättern, die einst das Dach gebildet hatten, der graue Reibstein und die zerbrochene Reibschale, und der Kessel zum Kochen. San Youn nahm sich zusammen und versuchte, in den Trümmern noch etwas Brauchbares zu finden. Ein Buschmesser, etwas Essbares. Aber alles, was brauchbar gewesen wäre, war fort. Sie kehrte um, wollte in den Wald zurück. Als sie wieder an der Leiche der alten Frau vorbeikam, blieb sie stehen. »Dem Dorf kannst du jetzt nicht mehr schaden«, dachte sie. »Aber hierbleiben möchtest du sicher auch nicht.« Sie wollte schreien, um den Geist der Alten fortzuschicken. Aber es wollte kein Laut aus ihrer Kehle kommen. Sie tastete nach dem steinernen Elefanten auf ihrer Brust. Wo waren nur Nu Kaung und San Kyi? Wo waren die Dorfbewohner?

      Sie war alt genug, um zu wissen, was mit den Dörfern passierte. Nur nicht alt genug, um es zu verstehen. Mi Mi hatte gesagt, dazu ist niemand alt genug. Nicht einmal die Elefanten. Nicht einmal Schildkröten. Die Flüchtlingslager waren völlig überfüllt. Schlimme Arbeit musste man dort machen oder man wurde getötet oder geschändet. Und oft wurden Menschen verschleppt. So wie ihr Bruder damals. Und deshalb schießen die Karen zurück, die Shan und alle anderen, jeder schießt auf jeden.

      »Und jeder Schuss macht noch mehr Schüsse, die dann von der anderen Seite kommen«, hatte die Mutter