Ben schreckte hoch. Er war verschwitzt und seine kinnlangen Locken klebten ihm im Gesicht. Er hatte nur geträumt. In Wirklichkeit lag er auf der Matratze in seinem Bus. Seine Beine hatten sich in einem Sarong verfangen. Die Algen, dachte er. Er befreite sich aus dem bunten Tuch und feuerte es wütend in die Ecke. Er schob die Seitenschiebetür seines klapprigen Ford Transit zur Seite, um frische Luft hereinzulassen. In der Nacht waren noch mehr Busse und Wohnmobile gekommen. Die Wiese sah aus wie ein Campingplatz. Bei diesem wunderbaren Wetter und dem konstanten Wind war das ja auch kein Wunder. An den Wochenenden war immer die Hölle los. Es erinnerte ihn an sein anderes Leben. An seine Zeit in Thailand. Natürlich war auf Phuket alles viel multikultureller und spannender gewesen. Seine Schüler kamen aus allen Teilen der Welt. Zum Sonnenuntergang hatte man sich am Strand getroffen und ein paar Bier gezischt. Zumindest, bis er Lamai kennengelernt hatte. Sie hatte sein Leben auf den Kopf gestellt. Es war die berühmte Liebe auf den ersten Blick gewesen. Sie hatten jede freie Minute zusammen verbracht. Schon nach wenigen Wochen war ihm klar, dass er nie mehr ohne sie sein wollte. Sie war sein Leben. Bis der Tsunami alles änderte. Etwas von ihm war mit ihr gestorben. Ohne sie wollte er keine Sekunde länger bleiben. Er war nach Bangkok geflogen und hatte vier Wochen lang seine Ersparnisse versoffen und sich mit Beruhigungspillen zugedröhnt. Danach blieb nur noch eine Lösung. Er musste zurück nach Hause. Die erste Zeit hatte er in seinem alten Kinderzimmer bei seinen Eltern gelebt. Seine Mutter war unendlich glücklich gewesen, doch er hatte ihre übertriebene Fürsorge nicht mehr ausgehalten. Sein alter Kumpel Olli war seine Rettung gewesen. Olli war auf der Suche nach einem zweiten Surflehrer für die Hochsaison. Er hatte das Angebot dankbar angenommen. Er war billig an den alten Transit gekommen und kurzerhand auf den Parkplatz gezogen. Ben atmete tief durch und versuchte, die Gedanken an Phuket zu verdrängen. Er schlüpfte in eine alte Armeehose, griff seine Zahnbürste und knallte die Schiebetür von außen zu. Er sperrte nie ab. Das war das Gute an seinem Zigeunerleben. Er besaß nichts, was sich zu stehlen gelohnt hätte. Die wenigen persönlichen Sachen, an denen sein Herz hing, waren für jeden anderen ohne Wert. Wenn er wollte, konnte er alles, was er brauchte, in zwei Minuten in eine Tasche packen und abhauen. Ben ging zu Hanjos Haus, in dessen Untergeschoss auch das Bistro war. Es würde ein heißer Tag werden und er würde genug zu tun haben, um sich abzulenken. Ben schloss die Hintertür auf und ging zu dem Badezimmer hinter der Restaurantküche. Das Bad war eigentlich für das Personal gedacht, doch die wenigen Aushilfskräfte, die in der Hochsaison stundenweise kamen, lebten auf der Insel und brauchten es nicht. Hanjo hatte ihm angeboten, es zu benutzen. Durch den hinteren Eingang konnte er es jederzeit betreten, ohne Hanjo zu stören oder durch das Bistro laufen zu müssen. Ben drehte das Wasser auf und versuchte die Erinnerungen für einen Moment wegzuspülen. Vergessen würde er die grauenhaften Bilder nie. Ben wusch sich das Shampoo aus den Haaren und überlegte, was er nun machen sollte. Normalerweise würde er zu Olli gehen, um mit ihm bei einem Becher Kaffee den Unterrichtsplan für den Tag zu bequatschen. Doch das war jetzt unmöglich. Er konnte Olli nicht gegenübertreten, nicht unter vier Augen. Warum hatte er sich nur darauf eingelassen? Ihm hatte es rein gar nichts bedeutet. Er hatte geglaubt, sie seien sich einig, sie hätte verstanden. Sie waren beide nicht nüchtern gewesen und sie waren erwachsen. Es ging doch nur um ein bisschen Spaß! Warum musste sie eine solche Szene machen? Und wie sollte er sich jetzt bloß verhalten? Er musste einfach so tun, als sei überhaupt nichts passiert. Wenn er Glück hatte, kam die Wahrheit nie ans Licht.
Sophie versuchte, ruhig zu bleiben. Stefan war nach wie vor ein arrogantes Arschloch. Er hatte sie behandelt, wie einen dummen Teenager. Sie solle nichts anfassen. Sie hatte lange genug als Polizeireporterin gearbeitet. Tina lag soviel daran, dass sie das alte Kriegsbeil endlich begraben würden. Und nun hatten sie sich bereits gestritten, bevor sie sich überhaupt gesehen hatten. »Scheiße«, flüsterte Sophie der Toten zu. »Wieso muss ausgerechnet ich hier lang joggen? Nimm es nicht persönlich, aber ich wünschte, ich hätte dich nie gesehen.« Im gleichen Moment schämte sie sich und sah sich die Leiche genauer an. Sie trug einen Neoprenanzug und lag auf dem Rücken. Warum sah das alles irgendwie falsch aus? Es musste grauenhaft sein zu ertrinken, dachte sie schaudernd. Vielleicht war die Frau schon fast am Ufer gewesen, als ihr die Luft ausging. Sophie fröstelte. Hatte sie den Strand gesehen und gedacht, dass sie es noch schaffen könnte? Die Augen waren geschlossen, so als hätte sie resigniert. Pelle hatte das Interesse an der Toten verloren und spielte mit einem großen Ast, der im Seetang lag. Sophie hatte das Gefühl, schon eine halbe Ewigkeit auf die tote Frau gestarrt zu haben, als endlich zwei Männer den Deich entlangliefen. Sie stiefelten durch den Sand auf sie zu.
»Aha! Da sind wir richtig! Polizeihauptkommissar Larrson. Das ist mein Kollege Claas Meier. Haben Sie Kriminalhauptkommissar Sperber verständigt?«
Sophie nickte. Larrson sah mit seinem grauen Vollbart eher wie ein Seebär aus. Er musste kurz vor der Pensionierung stehen.
»Wie ist Ihr Name?«, fragte Meier. Er sah aus wie ein pummeliges Riesenbaby. Wäre die Situation nicht so ernst, hätte sie beim Anblick des skurrilen Duos einen Lachanfall bekommen.
»Sophie Sturm.« Sie nickte mit dem Kopf in Richtung Leiche. »Mein Hund hat sie gefunden.« Larrson nickte und sein junger Kollege nahm ein Notizbuch zur Hand. Endlich sah sie auch Stefan. Er marschierte energisch auf sie zu.
»Morgen«, grüßte er brummig. »Und? Was haben wir?«
Sophie war entsetzt. Stefan roch nach Schnaps und ähnelte einem Penner. Er ging langsam um die Leiche herum. Pelle rannte begeistert auf die Gruppe zu. Den schweren Ast schleppte er gleich mit.
»Nimm den Hund weg!«
»Anscheinend wieder so ne Kiterin«, kommentierte Claas Meier und schüttelte den Kopf.
»Wieder?« Stefan stand auf und sah ihm ins Gesicht. »Was heißt denn wieder?«
»Vor drei Tagen ist auch so eine Verrückte ertrunken. Die wurde ein paar Meter weiter angeschwemmt.« Meier deutete mit dem Arm mehrfach in die Richtung und erinnerte an einen Verkehrspolizisten. Stefan nickte nur. Plötzlich wusste Sophie, was sie an dem Bild störte.
»Stefan?« Er warf ihr einen warnenden Blick zu, doch sie ließ sich nicht einschüchtern. »So wird man doch nie und nimmer angeschwemmt! Sie liegt auf dem Rücken, so als hätte man sie hingelegt.«
Stefan funkelte sie böse an und ignorierte sie dann. »Müsste schon ein paar Stunden tot sein. Broder, wo bleibt denn der Arzt?«
»Äh, Fips war noch beim Frühstück«, antwortete Meier für seinen Vorgesetzten.
»Fips?«
»Friedrich Pieper, äh, unser Doktor. Wir haben hier keinen Quincy auf Fehmarn.« Claas Meier kicherte über seinen Scherz.
»Ist hier irgendetwas witzig?«, fuhr Stefan ihn wütend an. »Wenn ja, dann würde ich gern mitlachen. Mach dich lieber nützlich und lass ein paar Kollegen kommen. Ich will hier keine Schaulustigen.«
In diesem Moment erschien ein älterer Herr mit Arzttasche auf dem Deich. Er winkte fröhlich, während er zum Strand spazierte. »Moin. Entschuldigt die Verspätung, aber ich hätte ja sowieso nichts mehr tun können. Moin Broder! Geht es deiner Frau wieder besser?«
Polizeihauptkommissar Larrson nickte. »Die Pillen, die du ihr verschrieben hast, haben Wunder gewirkt!«
»Antibiotikum! Ist eben das Beste, bei einer eitrigen Mandelentzündung.«
Sophie trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Sie konnte nicht glauben, dass die Männer neben der toten Frau ein Schwätzchen hielten.
»Wenn es den Herren recht ist, sollten wir mal zur Sache kommen«, unterbrach Stefan mürrisch.
Pieper schnalzte mit der Zunge und machte sich an seiner Tasche zu schaffen. Er streifte sich Handschuhe über und wischte der Toten die Haare aus dem Gesicht. Nachdem er sie nachdenklich betrachtet hatte, stand er wieder auf. »Ja,