Major Gilford schüttelte den Kopf, er würde dafür sorgen, dass dieser Bastard seiner gerechten Strafe zugeführt wurde.
»Who took this picture?«, wandte er sich an Goldmann, der sich ein wenig beruhigt hatte und wütend auf die Tasten der Olivetti starrte.
»Ich habe schon verstanden«, entgegnete Kaltenbrunner und fuhr fort: »In dem Lager gab es eine Widerstandsgruppe polnischer Juden, die sich ›Scoor‹ nannte. Mühlbauer hatte sie bespitzeln lassen. Als er sich sicher war, dass sie einen Aufstand planten, ließ er über sechzig der Gefangenen in einem Bunker zusammentreiben. Die Opfer wurden in kleinen Gruppen zu fünf oder sechs Häftlingen vom Bunker zum Leichenhaus geführt. Dort mussten sie sich nackt ausziehen. Mühlbauer hat mir eine Liste mit sämtlichen Namen der zu Erschießenden gezeigt. Er wollte damit vor uns Luftwaffenoffizieren prahlen. Die unbekleideten Häftlinge wurden dann aus dem Leichenhaus herausgeführt und mussten sich vor Mühlbauer auf den Boden werfen. Jeden Einzelnen hat er mit Genickschuss getötet. Zum Schluss lagen die Toten in zwei langen Reihen nebeneinander. Mühlbauer gab mir die Kamera und befahl mir, ihn zu fotografieren. Er hat die Leichen dann mit Benzin übergossen und angesteckt. Er blieb so lange bei den Leichenhaufen, bis alle verbrannt waren, der Gestank von verschmortem Fleisch hing danach noch stundenlang in der Luft«, schloss Kaltenbrunner, sichtlich erschöpft.
»Where did you want to fly with Mühlbauer?«
»Ich wollte mich bei Ritter von Greim in Kitzbühel melden, er war der Kommandant der Luftwaffe, nachdem Göring wegen Hochverrats verhaftet wurde.«
Loyal bis zum Tod, dachte Gilford und schüttelte den Kopf.
»He can go«, erwiderte er ungerührt.
Die beiden Polizisten zerrten Kaltenbrunner hoch.
»Und, was ist nun mit mir? Ich bin unschuldig, ich bin ein einfacher Soldat, ich habe niemals …«, schrie er, als sie ihn fast schon durch die Tür ins Freie bugsiert hatten.
Gilford antwortete ihm nicht.
»Was wissen wir über Mühlbauer?«, fragte er Goldmann stattdessen.
»Mühlbauer ist Mitte dreißig, schätze ich. Im Moment geht es ihm schlecht, er steht unter Schock. Er ist in Einzelhaft, redet kein Wort, sitzt auf seiner Pritsche und starrt die Wand an. Nachts steht er auf, und kritzelt irgendetwas im Schein einer Kerze in sein Tagebuch. Die Kerze hat ihm einer der Wärter besorgt, der Mitleid mit ihm hatte. Mühlbauer trug die Uniform eines deutschen Leutnants der Luftwaffe. Bei der Notlandung wurde er leicht verletzt, vielleicht der Grund für sein jetziges Verhalten.«
»Hat er seine Blutgruppe unter dem Arm tätowiert, wie es für die SS üblich ist?«, wollte Gilford wissen.
Goldmann zog irritiert die Augenbrauen hoch. »Das müsste überprüft werden«, entgegnete er nachdenklich.
»Go away«, befahl der dünnere der beiden Militärpolizisten dem Gefangenen verächtlich, nachdem er die Handschellen gelöst hatte und deutete mit seinem Gummiknüppel in Richtung der Baracke, in der Kaltenbrunner untergebracht war. Kaltenbrunner starrte gierig auf die Lucky Strike, die sich der Mann ansteckte und versuchte ein wenig von dem Rauch zu inhalieren, der zu ihm hinüberwehte, bis dieser sich umwandte und durch den dichten Schnee davonstapfte. Kaltenbrunner ballte die Fäuste in den Taschen der dünnen Uniformhose, die man ihm gelassen hatte, als man ihn gefangen nahm. Kaltenbrunner begann zu zittern, er hatte Angst vor einem neuen depressiven Schub, der ihm die Kraft rauben konnte, das Gefangenenlager zu überstehen. Sein Vorrat an Lithiumcarbonat, dem einzigen Medikament, das in der Lage war, seine Anfälle zu mildern, war fast aufgebraucht. Er musste sich ausruhen, eine Löffelspitze des weißen Pulvers zu sich nehmen, bevor er den Mut fand, sich wieder unter seine Mitgefangenen zu mischen, die sich allesamt bei der Essensausgabe am anderen Ende des Lagers aufhielten. Kaltenbrunner erreichte die Baracke und war durchgefroren bis auf die Knochen. Als er die dünne Holztür der Unterkunft öffnete, kam ihm die stickige Hitze des Kohleofens entgegen, die ihm sofort den Atem verschlug. Kaltenbrunner trat ein.
Er spürte, dass jemand hinter der Tür gelauert haben musste und sich ihm mit raschen Schritten näherte. Bevor er sich umdrehen konnte, spürte er den kalten Lauf einer Pistole in seinem Nacken. Die Kugel durchschlug den dritten Halswirbel. Sofort setzte ein taubes, wattiges Gefühl in seinem Körper ein. Das Letzte, was er fühlte, war die Mündung der Pistole auf seiner Stirn. Ein zweiter Schuss ließ seinen Schädel platzen. Wenig später fiel die Tür ins Schloss. Nur die knirschenden Schritte im Schnee waren zu hören, bevor sich eine bleierne Stille über das Lager legte.
Graal-Müritz, 23. November 1992
Duncan saß in seinem Rollstuhl und beobachtete das Meer aus dem zweiten Stock eines windschiefen Kastens. Verzweifelt, wie ein Schiffbrüchiger an seinen Rettungsring, klammerte sich das Hotel an den Kamm einer vom Sturm zerzausten Düne, deren strahlend weißer Sand das Auge des Betrachters blendete. Seine grünlich graue Fassade, ein Relikt aus der Honecker-Ära, trotzte seit Jahrzehnten den Windböen, die über die Ostsee jagten. Auch an diesem Tag peitschte ein Sturm die See und blies den Meerschaum auf den Sand. Wellen leckten den Strand bis an den Rand der Dünen. Die heiseren Schreie der Möwen, die über dem Wasser kreisten, übertönten das Donnern der Wogen. Zwei Urlauber, dick vermummt, stapften über den nassen Sand, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Schals festgezurrt. Ihr Ziel war die neue Seebrücke, die die Bäderverwaltung in Graal-Müritz angeregt hatte, um mehr Touristen aus dem Westen der Republik anzulocken. Die alte Brücke war 1941 einem schweren See- und Eisgang zum Opfer gefallen. In der alten DDR war niemand auf den Gedanken gekommen, den kurenden Genossen und den blassen Schulkindern aus den verräucherten Städten einen Bade- und Angelsteg zu gönnen. Vorbei die Zeiten, als Künstler wie Lionel Feininger oder Erich Kästner hier das anregende Klima genossen hatten. Nach der Wende war man auf die Rentner und die wenigen Familien angewiesen, die hier preiswert Urlaub machen konnten.
Zwei Dauergäste hausten im dritten Stock des Gebäudes. Duncan legte das Fernglas auf seinen Schoß, umklammerte die Räder seines Rollstuhls, wendete das Gefährt und ließ sich in die Mitte des Zimmers gleiten. Petersen, der Mann, mit dem er den Raum im »Haus Meerblick« teilte, stöhnte im Halbschlaf auf. Ein Speichelfaden tropfte von seinem Mund auf die Bettdecke und wurde von jedem Atemstoß hin und her geweht, als sich die Tür öffnete und hinter Anke, dem Zimmermädchen – einer drallen polnischen Blondine – ein kleiner drahtiger Mann, mit einem Trenchcoat bekleidet, den Raum betrat, Chaim Miller. Bis dahin roch es wie immer, nach abgestandenem Essen, Desinfektionsmittel und dem sauren Gestank nach menschlichen Ausdünstungen, doch jetzt mischte sich der herbe Duft eines männlichen Aftershaves in die Melange der Gerüche.
Chaim Miller hatte die kurzen schwarzen Haare nach hinten gekämmt und mit Gel gebändigt. Jetzt glänzten sie wie der Lack eines Steinway-Flügels. Sein federnder Gang strotzte vor Energie; die Hände in den Taschen des Mantels vergraben, betrat er den Raum und setzte ein triumphierendes Lächeln auf, als er Duncan entdeckte.
»Hallo Mr. Mühlbauer, schön Sie zu sehen nach all den Jahren«, sagte er mit leiser Stimme und einem nicht zu überhörenden englischen Akzent. Petersen furzte im Schlaf und drehte sich auf die Seite.
Anke starrte Miller verständnislos an: »Ich dachte, Sie wollten zu Mr. Duncan?« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab.
»Ein alter Scherz zwischen uns«, rief ihr Duncan hinterher, wobei er fieberhaft überlegte, wo er dem Mann schon einmal begegnet war.
Chaim Miller setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und erhob sich, als Anke mit einem Stapel frischer Bettwäsche zurückkehrte.
»Zeit zum Windeln wechseln, Petersen«, grinste sie und schlug die Bettdecke zurück. Sofort war der Gestank von abgestandenem Urin und Schweiß